Aus aktuellem Anlass

In Gedanken bei den Menschen in der Ukraine. In Gedanken bei all jenen, die ungewollt in unnötige Kriege mit hineingezogen werden. In Gedanken, bei den Müttern, die ihre Söhne ziehen lassen müssen und sie nie mehr sehen werden. In Gedanken bei allen, deren Leben in Bahnen gelenkt werden, die man keinem wünscht.
Einst sagte mir mal jemand: “jeder ist seines Lebensweges eigener Chauffeur”. Das mag wohl stimmen. Dennoch sollten wir uns erinnern: nicht jeder hat das Privileg, sich die Wege, auf denen er unterwegs ist, selbst auszusuchen.

Abseits des Wegs 

Sie sitzt am Straßenrand. Staub wirbelt auf. In ihren Armen ein Bündel zerknautschter Wäsche. Zwischen den Lumpen ein Stück Fleisch. Es atmet nicht mehr, leblos das Ärmchen.

Sie wippt vor und zurück, zurück und vor. Im immer wiederkehrenden Rhythmus. Sie will nicht hasten, ein bisschen verweilen. Staub wirbelt auf und trocknet ihre Tränen, rascher als es ihr lieb ist.
Ein Konvoi zieht vorbei, dann ein zweiter. Panzer stampfen Rautenmuster in den Kies. Auf den Ladeflächen Gewehre und Patronen, rein und unverbraucht. Noch haben sie keine Leiber durchbohrt und keine Knochen zersplittert. Noch haben sie kein Leben zerstört. Noch könnte man sich von dem Unheil abwenden, das hinter dieser neu gezogenen Grenze tobt und wie ein Orkan über ihre Heimat hinweg fegt. Doch keiner tut’s. Die einen rennen davon, die anderen direkt hinein. Als wäre es vorbestimmt.
Sie streichelt das schmale Bündel. Ihr Kind. Wie gerne wäre sie mit ihm die ersten Schritte gegangen, hätte sein Händchen zuerst noch in der ihren gehalten, warm und sicher um es eines Tages, wenn die Zeit reif dazu gewesen wäre, loszulassen. Wie gerne hätte sie ihr Mädchen zum Lächeln gebracht. Nie wäre sie von diesem Anblick satt geworden. Voller Freude hätte sie ihrem Kind die kleinen Wunder dieser Welt gezeigt. Ihrer Welt, so wie sie sie kannte, gut und schön, voller Liebe und Musik. Doch die Musik um sie herum war seit einer gefühlten Ewigkeit verstummt. Mächtige Worte aus dem Äther hatten eine neue Zeit angekündigt. Das Geratter von Maschinengewehren ist an die Stelle der lieblichen Melodien getreten, nimmt deren Platz ein. Füllt die Tage aus. Ebenso die Nächte.
«Liebes, wir können sie nicht mitnehmen», sagt er und zieht ihr die Kleine sanft aus den Armen, die sich daran klammern, als gäbe es sonst keinen Halt. Er küsst das Kind auf die kalte Stirn, bettet es in den Straßengraben auf Laub vom Vorjahr und deckt es mit Birkenästen zu. Sie kann sich nicht rühren, beobachtet ihn, wie er sich verabschiedet. Und bewundert seine Stärke.
Nie hätte sie gedacht, dass ihre Milch versiegen könnte, dass sie als Mutter versagen würde. Sie hätte gerne getauscht, in diesem Moment sich mit dem Birkenlaub bedeckt, dem Himmel noch einmal gute Nacht gesagt und sich für immer schlafen gelegt. Gerne hätte sie ihrem Kind eine angenehmere Reise ermöglicht. Wie unglaublich unnatürlich ihr das alles vorkam. Selber am Leben zu sein und das Kind alleine zurückzulassen. Das Atmen fällt ihr schwer. Sie legt die Hände über die Augen, will nichts mehr sehen, muss dieses Bild vergessen. Doch es reißt ihr ein Loch in die Brust. Brennt, als hätte eine Kugel sie durchschlagen.
«Sie wird frieren. Unser Mädchen wird in diesen klaren Nächten frieren», sagt sie und erwacht aus ihrer inneren Starre. Sie nimmt ein Birkenästchen und legt es zu den anderen über den kleinen ausgehungerten Körper.

Er schweigt. Sie schweigt.

«Lass uns gehen. Das Monster kommt schon näher.» Er zieht sie zu sich und schenkt ihr eine kurze Umarmung. Er streicht ihr die Haare aus dem Gesicht und wischt liebevoll mit dem Zipfel seines Ärmels den eingetrockneten Staub von ihren Wangen. Wie gerne würde er tauschen, sein Leben für das des Kindes hingeben, das ihnen genommen wurde, weil hinter den Grenzen das Grauen wütet und sie ungefragt diesen beschwerlichen Weg auf sich nehmen mussten. Lieber hätte er seine Frau lächeln sehen, wie damals am Tage ihrer Hochzeit und bei der Geburt der Kleinen. Er würde tauschen, wenn er könnte. Doch er kann nicht. Und er hört sein Herz in zwei Stücke brechen.
Niemand sieht den Abschied auf der Landstraße. Keiner hört das leise Schluchzen zweier Menschen. Der Wind sucht sich seinen Weg durch die Äste und der Wald summt ein ganz eigenes Lied. Der Tag löst sich auf und die Nacht übernimmt die Schicht. Raketenfeuer erhellen den Himmel, setzen Zeichen in die Luft. Sie beide laufen, drehen sich nicht um. Hasten, hetzen, rennen so lange ihre Füße sie noch tragen mögen. Den Konvois entgegen, die ins Verderben fahren. Sie laufen weg von der Katastrophe, die immer näher aufrückt. Hand in Hand. Nur noch in Lumpen gekleidet. Ein Bündel weniger im Gepäck.
Das Böse ist da und macht vor niemandem halt, denkt er und betrachtet seine Frau von der Seite. Nicht vor ihrem Häuschen, das etwas abseits des Dorfes nahe dem Waldrand steht und frisch gekalkt ist. Auch nicht vor dem Garten, der getränkt mit ihrem Schweiß, die Früchte ihrer harten Arbeit trägt. Zerstört alles Vertraute, als wär’s nie gewesen. Lenkt Geschichten in fremde Bahnen, löscht sie unwiderruflich aus. So dachten sie beide noch vor einer Weile, sie könnten standhalten, sich auflehnen, ihre Liebe und ihre Trauer seien stark genug um gegen das Elend anzukommen. Doch es walzt über alles hinweg. Überrollt die Lebenden und die Toten.
Armeefahrzeuge ziehen vorbei. So viele, dass man sie nicht mehr zählen mag. Sie sieht auf den Ladeflächen zukünftige Mörder, junge Männer, kaum Flaum ums Kinn, meist noch Kinder. Ihre Gesichtszüge eingefroren zu Masken von Kämpfern. Wie man es von ihnen erwartet. Sie denken nicht nach, befolgen Befehle. Dürften sie sprechen, würden sie ihr zujubeln und rufen: Keine Sorge Mütterchen, du wirst sehen, wir werden es richten. Doch sie schweigen. Und so ziehen sie dahin, ins Verderben, dorthin wo es erbarmungslos zu und her geht. Jeder auf sich alleine gestellt. Und sie weiss: Ihre Mütter werden sie beweinen, all jene die auf dem Feld und in den Schützengräben ihr Leben lassen müssen. Sie werden um ihre Kinder weinen, wie sie gerade ihres beklagt. Davon wissen sie noch nichts. Weder die jungen Männer noch deren Mütter. Noch sind sie stolz. Sie sind Soldaten und halten die Gewehre im Anschlag. Sind bereit zu töten, vielleicht auch bereit für ihr Vaterland zu sterben. Durch Patronen so jungfräulich, wie sie selbst.

Staub wirbelt auf. Die Landstraße revoltiert noch. Er ist da. Krieg.

Lebewohl, mein Ungewollter

Sie verfluchen dich. Kommst du des Weges, schlagen sie ihre Mantelkragen hoch und laufen mit gesenkten Köpfen, eiligen Schritten und verdrossen vor dir davon. Du bist ungewollt. Hässlichkeit wird dir nachgesagt. Ungefragt trägst du diese Bürde.

In dich wurde ich hineingeboren. Du hattest deine graue Decke über die Felder und Wiesen gelegt und den See zum Schweigen gebracht an jenem Donnerstagmorgen, erzählt man sich. In dich wurde ich wider deine Natur lautstark hineingeboren, dennoch hast du mich mit offenen Armen empfangen, dich schützend um mich gelegt, als wäre ich dein eigenes Kind. Trotz deiner Kälte und Nässe, strahltest du für mich Wärme aus. Selbst die vielen Jahresringe in meinem Leben haben nichts an meiner Zuneigung zu dir geändert.

In ihren Augen bist du die wahr gewordene Dystopie, launisch, die Zerstörung alles Schönen, der Tod im stürmischen Gewand, der keine Sense dazu braucht um uns in die Knie zu zwingen und zu sagen: „Haltet ein! Seid still! Besinnet euch!“ Wer dich verleugnet, den brichst du. Nicht weil du es tun willst, sondern weil du es tun musst. Mein Geliebter, ich liebe dich, weil du anders bist. Seltsamer, mysteriöser. Undurchdringlich, undurchschaubar, ungeliebt. Ich erkenne dich. Ich verstehe dich. Du tust, was du tun musst. Bist wahrhaftig.

Doch morgen gehst du wieder fort. Ich höre, wie sie aufatmen, da draussen, wenn du gegangen bist. Durch den Advent wirst du ersetzt, die Zeit der wärmenden Lichter, der Liebe und des Friedens. Für mich fühlt es sich falsch an. Ungerecht dir gegenüber. Als sei alles abwegig was du tust und nur das kommende habe Richtigkeit. Diese Zeit des Friedens, mein Ungewollter, wird nie so aufrichtig sein, wie du es bist.

Lebewohl, mein Ungewollter. Vermissen werd’ ich dich, denn in dir darf ich schweigen, bis ich mich selber höre; darf ich still sein, bis ich mich selber verstehe; darf ich so stark fühlen, bis es wehtut. Du machst mich lebendig. Nie werde ich verstehen, weshalb sie dich verfluchen, die Augen vor deiner Schönheit verschliessen. Denn kein anderer zeigt uns wahrhaftiger, wie fehlbar und endlich wir sind, wie Gehen und Werden zusammengehören. Und dass du ungeachtet all der entgegengebrachten Abneigung, in deiner Tiefe etwas Unergründliches aufbewahrst, das irgendwann wieder Blüten treibt.

In dich wurde ich hineingeboren, geliebter November, und in dir will ich eines Tages sterben, im Wissen dass du Ende und Anfang zu gleichen Teilen bist.

Halbzeit!

Selten hat mich ein Turnier derart wenig tangiert, wie die Fussball-Weltmeisterschaft 2018 es tut. Nicht wissenschaftlich belegte Gründe mögen wohl die Ursache hierfür sein. Darunter fallen das angenehme Sommerwetter, die (zu) verplante Freizeit oder etwa das Versäumnis mich beim Tippspiel anzumelden. Ein wesentlicher Grund jedoch ist die fehlende Teilnahme meines Lieblingsteams und der dazugehörigen musikalischen Fangemeinde. Die irren Iren fehlen: sowohl auf dem Platz, der Zuschauertribüne als auch in der Fanmeile. Denn vor sechs Jahren an der Europameisterschaft 2012 haben sie das geschafft, was bislang niemand geschafft hat: mein (Fussballer)herz höher, schneller und weiter schlagen zu lassen. Kurzum haben sie mich damals mit ihrer Begeisterung, ihrer Euphorie und ihrem Lied «the Fields of Athenry», mit dem sie im sonst verstummten Stadion zu Danzig weit über die Spielzeit hinaus ihrem Team Respekt und Liebe zollten, an der Hand genommen und damit mein Herz berührt. Die Iren haben bewiesen, dass es möglich ist, würdevoll zu verlieren und damit den grössten Gewinn zu verbuchen, der beim Sport verbucht werden kann: Fairplay.

Dieses ehrenhafte Verhalten auf und neben dem Spielfeld fehlt mir an dieser WM. Sinnfreie Aktionen von Spielern gefolgt von zeitweise wirklich dummen Äusserungen vermiesen mir die Stimmung derart, dass eine emotionale Beteiligung zum abwegigen Gedanken verkommt.
Zu oft drehen sich die Themen um Nationalismus, schizophrene Herzen, um Mehr- oder Minderwertigkeit, um Unsummen an Geld, das hin und her fliesst. Weshalb? Warum? An wen? Wir sprechen von Superlative. Von vielen Nullen – im wörtlichen, wie im übertragenen Sinn. Was sich da noch um Fussball – einen Mannschaftssport – dreht, frage ich mich?

Dass Fussball mit Politik und Macht im direkten Kontext steht, hat die Autorin bereits in anderen Beiträgen verarbeitet (hier und hier). Dass sich jetzt neben Politikern auch noch Hobby-Wissenschaftler zum Thema «Fussball» einmischen – und damit die wirklich fussballinteressierten Mitbürger, denen es um die 22 Mannen auf dem Feld und sonst um gar nichts geht, aufmischen – ist dann doch auch mir zu viel des Guten. Selbsternannte Pädagogen, Podologen, Ornitologen, Psychologen und Historiker – hier von mir auch Demagogen genannt – scheinen wie Pilze nach einem Herbstregen aus dem Boden zu schiessen, geben sich vermeintlich wortreich zu Aktionen und Themen, die sie entweder schlecht oder gar nicht recherchiert haben und verteilen schlussendlich ihren geistlosen Durchfall in Foren, die der Intelligente besser meidet. Das Schlimme daran? Die Fussball-WM 2018 verkommt zur Rassismus- und Migrationsdebatte schlechthin und entfernt sich so weit vom Thema, wie man sich nur entfernen kann.

Sollten demnach der zweiten Halbzeit die Glanzmomente ausbleiben – und ich rede hier nicht von spektakulären Toren oder Torschützenkönigen – sollte sich die WM-Spirale weiterhin in eine negativ-destruktive Richtung entwickeln, werde ich ausschalten müssen, bis die Iren eines Tages wieder dafür sorgen werden, dass ich meine Meinung zum Thema Fussball revidiere. Zwischenzeitlich gönne ich mir hin und wieder «the Fields of Athenry» aus dem Jahre 2012. Für mich nicht nur ein Lied, sondern ein Gefühl. Videobeweise dazu bestehen genug.

Die Entmystifizierung der Dinge

Als wir Kinder waren, wurde uns oftmals ein X für ein U vorgegaukelt. Vielleicht, weil die Erwachsenen von damals sich gerne mal einen Scherz auf Kosten der Kleinsten erlaubten, vielleicht auch, weil sie gewisse Tatsachen ausblenden, der eigenen Rationalität entfliehen wollten. Gut möglich, dass es teilweise schlicht und einfach auch auf Unwissen der Erwachsenen basierte, wenn sie uns Kindern etwas vorschwindelten. Als wir den Scherzen der Grossen jeweils auf die Schliche kamen, folgte in der Regel postwendend der Rachefeldzug mit ausgeklügeltem Schlachtplan. In der mit Imagination gesegneten Welt von Kindern ein leichtes Spiel.
Sie erkennen das Muster? Heute agieren Sie als der erwachsene Part, tischen hin und wieder den Kleinen ein paar Ungereimtheiten auf? Und lachen sich dabei klammheimlich ins Fäustchen über den gelungenen Streich? Seien Sie auf der Hut.

Denn es gibt sie. Die unverzeihlichste Lüge aller Zeiten schlechthin: «kleines Froilein, aus jeder Raupe wird einmal ein wunderschöner Schmetterling», sagten mir meine Eltern, Grosseltern und jeder, von dem ich es hören wollte. Ich sammelte Raupen und verbrachte Stunden damit, ihnen ausgewähltes Futter zu reichen, ihnen beim Verpuppen zuzusehen, nur um die Verwandlung jeweils zu verpennen. In meinen infantilen (Tag-)Träumen sah ich Schmetterlinge in allen Farben über die Gänseblümchenwiese fliegen, selbst die fetteste und scheusslichste Raupe war in meiner Vorstellung positiv konnotiert. Es ging soweit, dass ich daran glaubte, dass alles und alle eine Verwandlung durchmachen und etwas Wunderschönes daraus entstehen würde. Man liess mich in diesem Glauben. Etliche Zeit später, ich konnte zwischenzeitlich lesen und mir Wissen aneignen, deckte ich den Betrug auf. Spätestens in meinen Anfängen als Hobbygärtnerin, stellte ich fest, dass Raupen mitnichten immer schöne Schmetterlinge werden und sowohl Raupe wie auch der gemeine, hinterhältige und fresssüchtige Käfer (der mal Raupe war) innerhalb einer Nacht eine Schneise durch wachsendes Gemüse schlagen können, wenn sie denn wollen.

Nein, augenscheinlich verwandelt sich nicht jede Raupe in einen Schmetterling. Schliesslich verwandelt sich ein Tixi-Klo auch nicht in eine Edeltoilette. Da kann man Philippe Starck ranlassen, wie man will. Ein Tixi-Klo bleibt ein Scheisshaus sondergleichen und kommt einer selbstgebauten Latrine im Pfadfinderlager doch sehr nah. Eines, in das man nur mit 25 Promille intus oder als Stehpinkler freiwillig einen Fuss hineinsetzt.
Selbst bei Menschen sehen wir keine durchschlagenden Erfolge in der Causa «Raupe wird Schmetterling». Nicht einmal der Neuling, der gerade aus dem Geburtskanal gedrückt wurde, zyanotisch schreiend und blutverschmiert auf Mutters Brust liegend (der in seinem Leben öfters mal insgeheim darum betteln wird, man möge ihn wieder dort hin stecken, woher er gekommen war) hat das Prädikat Schmetterling verdient. Denn Achtung: einer Metamorphose liegen mehrere Faktoren zu Grunde, als nur geboren zu werden, zu futtern und sich dann zu verpuppen. Allgemeinhin bekannt als: Erziehung, Werte, Selbstbild.

Ein Beispiel: ein Vollidiot, der rassistische und frauenfeindliche Polemik betreibt, bleibt einfach ein Vollidiot, der rassistische und frauenfeindliche Polemik betreibt. Selbst ein vorangestelltes «Mister President» richtet in diesem Fall nichts mehr aus. Da kann man Philippe Starck ranlassen wie man will. Ein Scheisshaus bleibt ein Scheisshaus.

P.S: Die im Vorfeld Zeter und Mordio schreienden Medienschaffenden, welche dem Vollidioten während seines Aufenthaltes in der Schweiz in Habachtstellung salutierten und ihm Ehre erwiesen, sind sich hoffentlich bewusst, dass die Authentizität ihrer Artikel sowohl jetzt als auch in Zukunft in Frage gestellt werden. Bisweilen ersetzen solche Artikel und Zeitschriften – meiner Meinung nach zu Recht – das Scheisspapier in Tixi-Klos.

Ein Appell oder wie sag ich’s mit einfachen Worten

Obwohl mir politisieren nicht liegt, will ich heute Partei ergreifen. Mag mir die Fähigkeit zu polemischem «Geschnorre» auch völlig abgehen und ich inzwischen viel zu oft auf Göschenen-Airolo stelle (unterdessen Erstfeld-Biasca), wenn sich Politgrössen auf Bühnen profilieren, die einfache Arbeiter für sie errichtet haben, mag es mir an schlagkräftigen Argumenten fehlen, die meine Ansicht ins rechte Licht rücken, so werde ich heute dennoch Partei ergreifen. Einfach, weil es sonst niemand tut.

Einzig und alleine für meinen Beruf. Einer der keine Lobby hat. Einer dem Stillschweigen, Geduld und Bescheidenheit in vollem Umfang aufgebürdet wurde. Einer, der von der Gesellschaft immer noch und immer wieder in eine Schublade gesteckt wird, die längst marode auseinander zu fallen droht. Auf Handlanger der Männer in Weiss, Blutsauger und Popowischer werden wir gerne reduziert. Weshalb sich dieses Bild hartnäckig in den Köpfen der Bevölkerung hält, bleibt mir ein Rätsel.

Wenngleich ich eine dreijährige Ausbildung, ich mir Wissen durch Weiterbildung angeeignet und inzwischen 20 Jahre Berufserfahrung habe, gibt es Tage wie heute, an denen ich zweifle, überhaupt jemals in den Genuss von Bildung gekommen zu sein.

Das mag am Telefonat liegen, in dem mir ein Vater erklärt, wie Scheisse ich meine Arbeit mache, weil ich ihm keinen Arzttermin für sein Kind anbieten kann, der sich mit all seinen wichtigen Verpflichtungen wie an Geschäftsaperos teilnehmen, Biken und Gleitschirmfliegen vereinigen lässt. Dass sein krankes es Kind ist, welches ihm eigentlich dabei in die Quere kommt und er seinen Tagesablauf folglich umorganisieren muss, lässt er unausgesprochen im Raum stehen. Allzu gerne erklärt er mir, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe, nicht ohne reisserischen Unterton. Die blöde Kuh am anderen Ende der Leitung ist ja «nur» eine Pflegefachfrau. Ohne mich überhaupt zu kennen, disqualifiziert er mich nicht nur als Menschen sondern greift eine Berufsgruppe an, von der er so viel versteht, wie ich vom Fliegenfischen.

Vielleicht mag es auch daran liegen, dass ich nach einer langen, anstrengenden Schicht nach Hause fahre und in den Nachrichten höre, dass – obwohl die Nachfrage für Ausbildungsplätze steige, vermehrt auch ausgebildet werde – es in der Schweiz dennoch an qualifizierten Pflegefachkräften mangle. Mir dabei nur ein gequältes Lachen im Hals stecken bleibt, ich es runterwürge und mir denke: mögen noch so viele Pflegefachkräfte ausgebildet werden; dem Spardruck in Spitälern und Heimen werden auch die neuen Generationen von Fachkräften zum Opfer fallen. Diesem Umstand zu verdanken ist, dass sich immer mehr qualifizierte Pflegefachkräfte davonmachen, um nie mehr in den Beruf zurückzukehren. Diese Lücken werden kurzerhand mit «günstigeren» Fachkräften aus dem Ausland geschlossen. Eine Rechnung die irgendwie nicht aufgehen mag, so oft ich sie auch drehe und wende.

Oder es mag daran liegen, dass zwischenzeitlich ein Teil der Gesellschaft mehr über meinen Beruf und demjenigen des Arztes zu verstehen glaubt, als ich selbst. Weil sich digitale, wenn auch unseriöse Informationen bei übermotivierten Besserwissern eher ins Hirn brennen als die Empfehlung dreidimensionaler Fachpersonen. Zwangsläufig stellt sich mir die Frage, weshalb es uns eigentlich noch braucht und lande unweigerlich wieder beim Bild der Popowischerin. Hier schliesst sich zum ersten Mal ein Kreis.

Oft rufe ich mir einen Moment in Erinnerung, den ich Costa Rica vor ein paar Jahren gesehen habe, als ich an einem Hospital vorbei ging. Es war Nachmittag und vor der Hauptpforte warteten in einer Schlange stehend weit mehr als 50 Personen auf Einlass, um behandelt zu werden. Etliche waren wohl weit angereist um überhaupt eine Behandlung zu bekommen, ich konnte kaum erahnen, wie lange sie schon der subtropischen Hitze dort ausgesetzt waren. Sechs Stunden später ging ich – längst war es dunkel – denselben Weg zurück und sah sie immer noch dort stehen, geduldig ausharrend. Und plötzlich schäme ich mich: für meine Generation, für die Menschen in der Zeit und den Ort, in den ich hineingeboren wurde. Dort, wo alles machbar ist, sich niemand grämen muss, wie er zum nächsten Hospital gelangt. Wo es alles gibt und noch viel mehr. Ich schäme mich für den besserwisserischen Vater, dem Hobbies wichtiger sind, als sein krankes Kind, ich schäme mich für die überterminierten Dauerstänkerer, die sich bereits nach 15 Minuten über ihre elend lange Wartezeit beklagen, ich schäme mich für die Erwartungen gewisser Politiker und gewisser Verbraucher an unser Gesundheitswesen. Die Erwartungen, die unbeschreibliche Ausmasse annehmen und dabei immer mehr Geld verschlingen. Würde man sie mal ein bisschen herunterschrauben, wären wir immer noch Lichtjahre von dem entfernt, was ich in Costa Rica gesehen habe, dennoch ein bisschen näher dran. Näher dran am Menschen. Zu guter Letzt schäme ich mich für die inexistente Verantwortung der Gesellschaft dem Thema Krankheit und Gesundheit gegenüber. Ein Thema, so scheint es mir, das jede und jeden betrifft, zumindest jene, die ihren Körper lieben und ihm Gutes tun wollen. Diese Verantwortung wird allzu gerne ausgelagert, delegiert, verkommt gar zum Abbauprodukt.

Immer wieder klingen die Aussagen meiner Kolleginnen in mir nach: «du musst wegstecken können, einfach weitermachen, nichts persönlich nehmen.» Sie fürchten Sanktionen. Man bleibt lieber still. Des Friedens Willen. Für mich hört hier und heute das Wegstecken auf. Es mag unprofessionell wirken, dennoch ergreife ich Partei, weil ich sagen will: wir Pflegefachfrauen sind Menschen mit Gefühlen, keine Roboter.

Wir sind nicht dazu da, den Frust aufzufangen, der sich in Ihrem Leben aufgebaut und angestaut hat, der in der Regel durch eigene Unzufriedenheit entsteht und nicht durch Dritte verursacht wird.
Wir sind nicht dazu da, Ihnen die Verantwortung für sich, ihr Kind oder ihre Krankheit abzunehmen. Über Ihre Gesundheit entscheiden Sie immer noch selbst.
Wir sind nicht dazu da, Ihnen zu bestätigen, was sie gerne hören möchten. Es steht in keiner Stellenbeschreibung, dass wir uns dazu verpflichten, den Patienten anzulügen.
Wir sind nicht dazu da, uns  – weder verbal noch physisch – treten zu lassen, weil Sie sich dafür berechtigt halten. Es existiert keine Sonderklausel, die Sie dazu befugt.

Aber,
wir sind dazu da, Ihnen Wissen zu vermitteln, Sie theoretisch und praktisch anzuleiten, Sie in schweren Lebensmomenten zu begleiten und Ihnen helfend beiseite zu stehen, damit sie von uns Gelerntes in die Tat umsetzen können. Damit Hilfe zur Selbsthilfe nicht nur eine Floskel bleibt.
Wir sind dazu da, Ihnen zuzuhören, Ihre Sorgen auch ein bisschen zu teilen, wenn Sie nicht mehr weiter wissen oder können.
Wir sind dazu da, durch Informationen aus erster Hand Ihre Ängste abzubauen, im besten Falle ganz auszuräumen.
Wir sind dazu da, Ihr Recht bei anderen Berufsgruppen zu vertreten, Ihnen eine Stimme zu geben, dann, wenn Ihnen schlichtweg die Worte fehlen.
Und ja, wir sind auch dazu da, Ihnen Blut abzunehmen, den Katheter zu wechseln oder den Po und Erbrochenes abzuwischen, Sie zu waschen, Sie an- und auszukleiden, Ihnen das Essen einzugeben, daraufhin die Zähne zu putzen und die Haare zu kämmen, sollten Sie selbst dazu noch nicht oder nicht mehr in der Lage sein.
Aber nicht nur.

Vielleicht stehen Sie in der kommenden Wintersaison wieder mal für geschlagene 45 Minuten an einem Skilift an, nur um einer Abfahrt durch den Pulverschnee willen. Dann denken Sie bitte daran, diese Geduld auch beim nächsten Arztbesuch aufzubringen. Vielleicht ist vor Ihnen jemand an der Reihe, der ein wenig länger benötigt, um in den Sessel zu steigen oder dessen Skier sich verheddert haben. Vielleicht ist vor Ihnen jemand an der Reihe, der noch lernen muss, mit dem umzugehen, was ihm mitgeteilt wurde. Um es zu verdeutlichen: vielleicht ist jemand vor Ihnen an der Reihe, dem es noch ein bisschen beschissener geht als Ihnen selbst.
Sollten Sie die Zeit nicht aufbringen und stattdessen eine x-beliebige Pflegefachperson auf dem Flur beschimpfen wollen, nur um Ihren Frust loszuwerden: gehen Sie nach Hause, üben Sie sich in costaricanischer Geduld, üben Sie sich im menschlich sein, schlagen Sie bei Google nach oder wählen sie 11880. Da werden Sie geholfen.