Ein Leben mit Lücken

Vor etwas mehr als einem halben Jahr trennte sich das Froilein von seinem Beruf. Ein Beruf, der ihm nach 25 Jahren Tätigkeit in Fleisch und Blut übergegangen war, der ihm wie ein guter Freund auch über die schlechteren Tage hinweg geholfen hatte. Ein Beruf, dem es ehrlich zugetan war. Doch: zu ausgetreten und routiniert schienen dem Froilein die Wege des Alltags im Gesundheitswesen, zu starr erwiesen sich die Zäune, die ebendiese Wege begrenzten und es somit einschränkten, hin und wieder lausmädchenhaft auszubrechen, neue Ideen zu verwirklichen. An der kurzen Leine gehalten und nach Lust und Laune ausgeführt zu werden, erfüllte das Froilein weder mit Freude noch mit Motivation. Der Wunsch, unbekannte Pfade erkunden zu dürfen, war inniger, als der Wunsch, an alten Normen festzuhalten.
So stand es da. Mit leeren Händen – und was noch viel schlimmer war – mit schwerem Herzen. In einem Sommer voller Sonne tat sich für das Froilein plötzlich ein finsteres Nichts auf, in welches es zu fallen drohte. Plötzlich kreisten seine Gedanken um Fragen wie «kann ich mir das leisten?», «habe ich versagt?» und «weshalb habe ich versagt?», «was ist der Plan?» und «wie zum Teufel werde ich diese Lücke in meinem Lebenslauf erklären können?» Sie waren es, welche seine Sicht verdunkelten und die hellen Tage trübten.

Es hätte verreisen, all die unangenehmen Gedanken hinter sich lassen können. Doch mit Gewissheit wären sie noch da gewesen. Geduldig auf seine Rückkehr wartend. Das Froilein blieb und stellte sich. Seinen Fragen, seinen Sorgen und vor allem sich selbst.
Die Tage und Nächte plätscherten dahin. Die profanen Dinge des Alltags lenkten das Froilein ab, lenkten es in eine andere Richtung. Auf einmal war sie da: Zeit. Zeit für andere Dinge und andere Aufgaben. Ein Garten wollte bestellt, das Gemüse und Obst geerntet und verarbeitet werden. Längst fällige Renovierungsarbeiten am Haus oder eine immer wieder aufgeschobene Wanderung wurden in Angriff genommen. Ein verletzter Streuner, dem Zuwendung gebührte, erhielt des Froileins Aufmerksamkeit und konnte in aller Ruhe genesen. Es ergaben sich vermehrt Besuche bei Eltern und Freunden, Platz für Kaffee und Gespräche.

Und so kam es, dass das Froilein die unbeliebte Lücke im Lebenslauf mit glücklichen Momenten aus- und auffüllte.

Neulich beim Einsortieren:

Als Studienkoordinatorin zeige ich mich verantwortlich für das Einholen der Lebensläufe der Projektmitwirkenden. Auch meinen eigenen – ebenfalls aktualisierten Lebenslauf – heftete ich unter dem Register «Curricula Vitae» ab. In jenem Moment des Abheftens, erinnerte ich mich an meine Angst, die nicht von mir abgelassen hatte, sich an mich klammerte und mich meist unerwartet aus dem Hinterhalt angriff: «Wie zum Teufel erkläre ich die Lücke in meinem Lebenslauf?»

«Curriculum» bedeutet Lehrplan. Ein «Curriculum Vitae» darf demnach als Lehrplan des Lebens bezeichnet werden. Doch was sagt der Lehrplan des Lebens über den Menschen der dahinter steckt aus? Mit wie viel Ehrgeiz er seine Ziele verfolgte, vielleicht? Zeichnet der Ausbildungsgrad automatisch den Wissenstand einer Person ab? Darf ein häufiger Wechsel der Arbeitsstelle als innovativ oder als bedenklich bezeichnet werden? Wie verhält es sich mit der Interpretation von Lücken? Gilt man automatisch als Freigeist? Faulpelz? Oder beides zu gleichen Teilen?

In der Literatur sind Leerstellen gewollt. Sie regen zum Mit- und Nachdenken an. Sie sind es, die den Leser sowohl irritieren als auch fördern. Im echten Leben, fern der Dichtkunst, zeigt die Realität, dass wir nicht mit Lücken umgehen können. Ein «Curriculum Vitae» mit Lücken wird stets weniger begünstigt wahrgenommen als ein Lebenslauf, der fein säuberlich auf 40 oder mehr Jahre chronologisch zurück verfolgbar ist. Allem Anschein vermittelt ein lückenloser Lebenslauf Sicherheit. Zumindest trügerische Gewissheit, dass die Person nichts Verrücktes oder Abwegiges angestellt hat und mit grosser Wahrscheinlichkeit auch nicht noch tun wird. Doch trügt der Schein nicht manchmal?

Kein Mensch schreibt in seinen Lebenslauf, dass da eine Lücke ist, weil er sein Leben in Ordnung bringen wollte, er eine Entziehungskur gemacht hat. Niemand schreibt, ich habe meinen Mann, meine Schwester oder gar mein eigenes Kind zu Grabe getragen und konnte für eine Weile unmöglich meinen Arbeitspflichten nachkommen. Wer erwähnt schon im Lebenslauf, dass Krebs dazwischenkam? Und in welchem steht geschrieben, dass man die demenzkranke und pflegebedürftige Mutter bis zu deren Tod begleitet hat und aus gutem Grund die Arbeit auf der Strecke blieb? Wer hält es für erwähnenswert, seinem Bruder auf dem Hof ausgeholfen zu haben, weil dieser sich plötzlich in der Situation wiedergefunden hat, sich neben der Arbeit auf dem Hof nun auch noch um seine drei Halbwaisen kümmern zu müssen?

Nun gut, Lücken können beschönigt oder auch geleugnet werden. Eine Reise zu den Urvölkern Indiens mit anschliessender Läuterung in einem nepalesischen Kloster scheint nicht nur in den Augen einiger Arbeitgeber sondern auch in den Augen unserer Gesellschaft weniger heftig, zumindest akzeptabler, zu sein, als sich zum Beispiel nach einer Chemotherapie ein Jahr Auszeit zu nehmen. Das eine kann man verstehen, gar nachvollziehen, über die andere Lücke will nicht gesprochen werden. Zu schwer die Last, die damit verbunden ist.

Besteht sie deshalb? Diese bedrückende Angst vor der Lücke im Lebenslauf? Dass zwei Seiten Papier eine ungewollte Wertigkeit widerspiegeln? Ist man automatisch auf dem Arbeitsmarkt und in den Augen einiger Mitbürger weniger wert, wenn eine Leerstelle die Chronologie unterbricht? Und ist man noch weniger wert, wenn der Inhalt der Lücke sich nicht einordnen lässt? Ist dies ein subjektives Empfinden oder bewegen wir uns tatsächlich in einem verqueren Wertesystem?
Fakt ist: niemand – auch nicht der beste und empathischste Arbeitgeber – kann zwischen den Zeilen lesen oder herausspüren, welche Person sich dahinter versteckt. Ohne persönliches Gespräch, ohne das Herantasten an einen anderen Menschen, ohne das konkrete Hinhören hat auch niemand das Recht dazu, ein Urteil zu fällen. Einen Grund sich für eine Lücke zu schämen oder sich deswegen zu grämen, den gibt es nicht. Selbst die grösste Lücke erzählt eine Geschichte.

Zeigt der Autor Mut zur Leerstelle, wird er gelobt. Er verbessert und verfeinert durch das Weglassen von Inhalt den Text. Ist dies nicht Ansporn genug? Jeder darf zu seinen Lücken stehen, egal ob sie in einem Lebenslauf, im Gedächtnis, im Herzen oder sonst wo festgehalten sind. Bisweilen verfeinern sie unser Leben. Mit Gewissheit gewinnt deswegen ein jedes an Tiefe.

Der kleine Blick aufs Glück

Neulich in der Mensa:

Letztens sass ich leicht betrübt beim Mittagessen. Zu voll, zu laut, zu hektisch, zu alles störte meine Sinne. Just im Moment, als ich mir überlegte, ob ich die Mahlzeit als geniessbar durchgehen lassen oder ihr doch lieber die Note «ungenügend» aufbürden sollte, schob sich vom rechten Tellerrand ein Schneckenhaus in mein Blickfeld. Mittelgross, mit schwarz-weissen Rillen und ohne irgendwelche sichtbaren Beschädigungen lag es auf einem roten Peperonistück, als hätte es sich darauf gerettet. DER wahr gewordene Albtraum eines jeden Veganers. Von dieser Tatsache fasziniert, vergass ich alles um mich herum, schob gedankenverloren mit der Messerspitze das Schneckenhaus mitsamt seinem Rettungsboot durch die Sauce, tunkte es darin ein, einzig und alleine um zu sehen, ob es absoff oder oben aufschwimmen würde. Ich schob es hin und her. Von rechts nach links. Wieder zurück. Drapierte es derweil am Tellerrand, richtete es neben den Nudeln her, als würde ich die korrekte Position für ein Stillleben zu finden versuchen. Sozusagen den goldenen Schnitt festlegen wollen. Restlos erstaunt darüber, dass das Häuschen einen Kochvorgang als Ganzes überlebt hatte, war ich – während sich die anderen am Tisch über Ungeziefer im Essen echauffierten – im Begriff ein Loblied auf die Überlebenskunst gewisser Individuen anzustimmen, wollte euphorisch diesen triumphalen Sieg der Fauna feiern. Dann jedoch sah ich, dass die Schnecke ausgezogen war. Niemand wusste wohin. Ich hob den Teller an, um zu sehen, ob sich darunter ein nacktes Etwas beim Fluchtversuch festgeklebt hatte und nur darauf wartete in einem unbeobachteten Moment sein Heim zurückzuerobern. Ich kontrollierte auch die leergeputzten Teller meiner Nachbarinnen. Ohne Erfolg. Weshalb zum Teufel, fragte ich mich, hatte eine kleine Schnecke solch einen trostlosen Abgang verdient? Kläglich zu verenden? In einer Kantinenmahlzeit? Ohne Aussicht auf Wiedergeburt? Ich fühlte mich noch elender als zu Anfang der Mahlzeit.

Hin und wieder werde ich belächelt. Für solche Gedankengänge. Für das ausschweifende Abschweifen in ungeahnte Tiefen. Mir ist das egal. Für etwas sollte das Ding namens Denkorgan genutzt werden. Der Mensch, ja der ist dazu befähigt, seine Gedanken spiralförmig in immer weitere Dimensionen vordringen zu lassen, daraus die herrlichsten Geschichten zu spinnen. Es mag viele Gründe geben, weshalb er sich davor fürchtet, es gar tunlichst unterlässt, sich nur ungern auf das Verheddern von Gedanken einlässt. Sie hier aufzuzählen, würde den Rahmen indes sprengen.

Wir sehen den Wald, wenn es hoch kommt noch einen Baum. Doch wer sieht den Trieb der jungen Rotbuche, der durch das modrige Laub vom Vorjahr bricht und sich gegen den Himmel reckt?
Wir sehen den Regen, meist zu viel davon, übersehen jedoch den Regentropfen, der sich über die Fensterscheibe zieht, dabei ein Muster hinterlässt, bevor er sich mit einem anderen Regentropfen vereinigt und zum Rinnsal wird.
Wir nehmen die vielen «Dieda’s» wahr, sehen aber nicht, wie Youssef in der Küche des Grandhotels an der Spüle steht, ein Lied pfeift und dazu mit den Hüften wippt, während er stundenlang dreckiges Geschirr entgegen nimmt.

Tag für Tag arbeiten wir auf die grossen Momente des Lebens hin und übersehen dabei oftmals die kleinen Dinge. Sie sind es, die uns ein Lächeln ins Gesicht zaubern, die unsere Synapsen tanzen lassen, Endorphine ausschütten. Es sind die kleinen Dinge, welche «grosse» Geschichten schreiben. Wer den Mut aufbringt, seine Linse auf Zoom zu stellen, wird sich vielleicht ab und zu erschrecken, sich öfter wundern. Schlussendlich nennt sich das aufkommende Gefühl dabei dann ganz einfach: «glücklich sein.»

In den Kleidern meines Bruders

Neulich im Kinderbekleidungsgeschäft

Den Kindergrössen ist das Froilein längst entwachsen. Auch wenn in emotionaler Hinsicht immer noch Entwicklungsbedarf bestehen mag, darf es mit Stolz verkünden: Das Froilein trägt Erwachsenenklamotten. Folglich und weil es keine eigenen Kinder hat, ist es äusserst selten in Kinderbekleidungsgeschäften anzutreffen. Dennoch kam das Froilein erst kürzlich nicht drum herum. Ein neuer Erdenbürger hatte sich angekündigt, ein Willkommensgeschenk wollte gefunden werden. So stand das Froilein also im Laden und wühlte sich verzweifelt durch die kleinste Grösse auf der Suche nach etwas, das weder rosa noch himmelblau schimmerte und wurde trotz Gefluche über Klischees – nicht fündig. Zwei Frauen in seinem Alter kreuzten seinen Weg, betütelten ihre Mädchen, das eine schon im gehfähigen, das andere noch im Maxi-Cosi-Alter, doch beide von Kopf bis Fuss in rosa Tüll gehüllt. Die Nägelchen der winzigen Finger bemalt, posierte die Grössere gekonnt vor dem Spiegel, warf sich ein pinkfarbenes Prinzessinnencape über die Schultern, schickte ihrem Spiegelbild Luftküsse zu und entlockte damit den beiden Frauen einen Seufzer. Die Mutter der kleinen Diva setzte ihr ein silbernes Diadem aus Hartplastik und Glitzersteinen auf den Kopf und rückte die entrückten Locken zurecht. Beherzt krallte sich die andere Frau ein Mini-Diadem und setzte es ihrem Winzling aufs Haupt: „schau nur, wir sind Mütter von Prinzessinnen. Jetzt müssen wir nur noch ihre tapferen Ritter finden.“ Unter Gelächter steuerten sie auf die Kasse zu, nicht ohne sich für die nächste Woche wieder zu verabreden. Und die Übernächste.
Das Froilein schaute lange und ungläubig den vermeintlich intelligent aussehenden Damen nach. Ihm war ob dieser Szene regelrecht speiübel geworden und es hätte gerne gekotzt, auf der Stelle, besann sich dann doch eines Besseren. In Kinderbekleidungsgeschäften zu kotzen, macht sich einfach schlecht im Lebenslauf.

Ich trug sie nach. Die Kleider meines Bruders. Zumindest so lange, wie ich reinpasste. Nicht etwa, weil ich musste, sondern weil es seinerzeit einfach üblich war, anderer Leute Kleidung nachzutragen. Man nannte es Weiterverwertung. Da kam es nicht darauf an, ob die braune Cordhose für ein Mädchen oder einen Knaben bestimmt, ob das Hemd gelb, grün, rosa oder blau war. Klebeflies-Flicken zum Aufbügeln waren hip, denn Risse und Flicken zeugten nicht nur vom Alter des Kleidungsstücks, sondern auch vom Freiheitsdrang und der Abenteuerlust des Vorträgers oder der Vorträgerin.
Ich trug sie nach. Die Kleider meines Bruders, seine Hosen, die schon etlichen Stürmen stand gehalten hatten und ebenso für mich stand halten würden, seinen Pullover in dem ich einen arktischen Winter überlebt hätte, wäre denn einer gekommen. Darin lag nichts Märchenhaftes, aber auch nichts Verwerfliches. Trug ich Kleider nach, wurde mir vermittelt: Sei was du willst, egal, was du trägst. Allein von Bedeutung ist, wer du darunter bist. So lernte ich beim Blick in den Spiegel, mich nicht mit Jungen- oder Mädchenkleidern, nicht mit einer Rolle zu identifizieren, die mir sozusagen auf den Leib geschneidert worden war, sondern sah mich – das Kind.

Ich erschrecke also über den Zustand, dass wahrlich gescheite Frauen, die sich Feministinnen nennen, die sowohl Haushalt als auch Job, Kinder, Hund und Mann unter einen Hut zu bringen versuchen, nicht davor zurückschrecken, ihre Töchter und ihre Söhne in eine normierte, klischeebehaftete Rolle zu stecken, von der sie mit höchster Wahrscheinlichkeit selbst verschont geblieben sind. Welchen Gewinn erhofft man sich daraus? Wollen alle Mädchen wirklich um jeden Preis Prinzessinnen sein? Von ihren Müttern in rosa Tüll gehüllt? Wollen alle Buben stolze Ritter sein und mit einem Schwert das holde Fräulein aus der Burg retten? Was geschieht, wenn der Sohn lieber die Prinzessin sein will, wenn die Tochter sich dazu entschliesst, weder Prinzessin noch Ritter sondern – oh Schreck – nur das einfache Kind von Nebenan zu sein? Lernte uns Erwachsenen die Erfahrung nicht, wie schwer es ist, aus einer Rolle auszusteigen, wenn man zu tief in einer drinsteckt?
Wir, die Kinder von Damals mit den Flicken auf den Knien der ausgebeulten Hosen des Bruders oder der Schwester, verdrängen oft, dass wir nun die Aufgabe inne haben, den Kindern von Heute Werte zu vermitteln, die sie zum Heranreifen benötigen. Sie als Individuen und nicht als Objekte zu behandeln, denen man einfach ein Prinzessinnenkleid überziehen kann, um Prinzessinnen aus ihnen zu machen.
Schenken wir Ihnen doch deshalb lieber das Vertrauen und das Recht, sich selbst aussuchen zu können, wer sie wirklich sind, bevor wir ihnen eine Rolle aufbürden, ehe die ersten Zähne kommen. Schenken wir ihnen die Zuversicht, alles erreichen zu können, wenn sie es versuchen. Schenken wir ihnen die Zeit, herauszufinden, was von Bedeutung ist und schenken wir ihnen vor allem die Liebe, sich selbst zu lieben, als Mensch – frei von allen Rollen.

Generation «wisch und weg»

Neulich in einer Gesprächsrunde

Ein Schauspiel in einem Akt:

Person A (entrüstet): «Ohh, m-e-i-n Gott!»
Person B (empörter): «Unglaublich!»
Person A: «Stell dir vor du hast ’ne Autopanne irgendwo im Nirgendwo und dann das? Du könntest n-i-e-m-a-n-d-e-n erreichen.»
Ich (überzeugt): «Ach, kommt jetzt, das kann echt nicht euer Ernst sein, oder? Das Ding sichert keineswegs euer Überleben.»
Person A zu Person B: «Wie kann man so naiv sein und DAS DING zu Hause liegen lassen? Ich würde sterben ohne.»
Person B zu Person A (despektierlich): «Wie recht du doch hast. Voll retro, die Frau.»
Person A zu Person B: «du, was geht da eigentlich so mit Snapchat?»

(Person A erklärt Person B was da so mit Snapchat geht. Abgang meine Person)

Seit ein paar Tagen wird wieder vermehrt über Generation Y gesprochen. Eine europaweite Befragung junger Erwachsener zwischen 18 und 30 Jahren ist nicht unschuldig daran. Man will wissen, wie die Millenials, wie sie auch genannt werden, so ticken.

Unlängst habe ich mich gefragt, ob sich Generation Y der Bedeutung ihres Ypsilons überhaupt bewusst ist. Im Englischen wird das Y als «Why» ausgesprochen. Und dieses «Why» wirft wirklich etliche Fragen auf. Eine von vielen: Warum führt Generation «Why» Beziehungen mit Telefonen?
Da stehe ich in der Menge und schaue mich um, beobachte vorwiegend junge Menschen dabei, wie sie mit einer innigen Sanftheit oder einer zielstrebigen Härte über den Bildschirm ihrer Smartphones streiche(l)n, als berührten sie eine ihnen vertraute Person. Doch anstelle von Gänsehaut oder Erregung öffnet sich eine App. Und was tun sie? Sie geben sich damit zufrieden, lächeln verträumt. Die einzige Erregung zeigt sich auf dem Display. Manchmal knutschen sie ihre Bildschirme ab, schreien und fauchen ihre Telefone auch an und wundern sich darüber, dass sie nicht antworten. Diese degenerierten Smartphonezombies laufen durch die Gegend, die Köpfe immerzu gesenkt, das reale Leben um sich herum vergessend, durch alles hindurchschauend, ständig jemanden anrempelnd (in der Regel mich) und nur auf eines fixiert: Das Ding in ihren Händen. Fehlt Strom in der näheren Umgebung, weisen sie das typisch lechzende und exzessive Verhalten jener seelenlosen Spezies auf: kurzatmig kreischend, heulend, fluchend, sich mit Schweissperlen auf der Stirn nach einem Ladekabel durchfragend. Nimmt man ihnen das Spielzeug weg, vegetieren sie dahin, fühlen sich verraten und verängstigt oder glauben an eine infame Verschwörung. So oder so kaufen sie sich ein Neues, wenn das Alte weg ist oder den Dienst verweigert. China ist schliesslich auch nur noch einen Katzensprung entfernt.

Warum Generation «Why» das tut? Sie kann wohl nicht anders. Die «Digital Natives» werden – provokativ und überspitzt formuliert – mit Handys in den Händchen und voller Akkuleistung aus dem Mutterleib gepresst. Sie wissen eine SMS zu verschicken, bevor sie laufen können, «Whatsapp» oder «Google» ersetzen erste Worte wie Mama oder Papa und der «schnellende Daumen», der das über-den-Bildschirm-Wischen beinahe verunmöglicht, ist wohl nach wie vor die meist gefürchtetste Krankheit dieser Generation (der sich aber operativ korrigieren lässt).

In meinen Augen setzt die Generation «Why» damit ein Zeichen. Ein Zeichen wie schnell und oberflächlich es auf der Welt zu und her geht, dass gerade in unserer Gesellschaft alles seinen Preis hat, aber kaum mehr etwas wert ist. Freundschaften werden digitalisiert gehalten, beliebig gelöscht oder reaktiviert. Wann immer man will. Rechtspopulismus findet in digitalen Medien wieder eine Plattform. Meist in den stupidesten Kommentaren von stupiden Kommentaren auf stupide und fragwürdige Online-Texte. Anteilnahme wird genauso wie Verantwortung entpersonalisiert, lieber noch an eine App delegiert und Empathie, ja Empathie verkommt zum Wort im Nachschlagewerk und verstaubt dort. Die Generation «Why» setzt damit ein Zeichen, dass es schlussendlich möglich geworden ist, sich hinter einem Telefon zu verstecken, das nicht grösser ist als die eigene Brieftasche und dass die Menschen jeglicher Generationen gerade deswegen immer einsamer werden.

So kommt es, dass ich mir für die Generation Y einen neuen Namen ausgedacht habe. Dazu zähle ich nicht nur die Bevölkerungskohorte zwischen 1980 und 1999. Längst hat sich das grassierende Virus ausgedehnt und weitere Generationen infiziert. Eine neue Generation resultiert daraus: «wisch und weg». Denn so flink die Menschen der Generation «wisch und weg» mit ihren Fingern über den Bildschirm wischen, so rasant ihnen die Informationen zufliegen, so schnell haben sie eben jene auch wieder weggewischt, weggedrückt und gelöscht. Von ihren Bildschirmen entfernt, aus ihren Köpfen und aus ihren Herzen. Delete. Sie sorgen sich um kontinuierliche Updates ihrer Telefone und säubern somit ihre Leben, ohne zu ahnen oder vielleicht auch nur ansatzweise zu erkennen, dass der wahre Dreck da draussen immer noch existiert und es nicht genügt, ihn in den digitalen Papierkorb zu stecken. Generation «wisch und weg» hat die Verdrängstrategie schlechthin entwickelt. Und nach sich ziehend Scheinwelten kreiert.

Nichtsdestotrotz hab ich die Hoffnung (noch) nicht aufgegeben. Für den Virus Generation «wisch und weg» einen geeigneten Impfstoff zu finden, fällt nicht in den Aufgabenbereich von Pharmazeuten. Und eine lebenslange Immunisierung bleibt wohl eine Utopie. Doch hier ein Aufruf an alle «wisch und weg»-Menschen: wer mutig sein will, lässt sein Handy mal einfach für eine Weile unangetastet. Für diejenigen, die dieser Schritt schon zu gross ist: manchmal genügt es bereits den Kopf zu heben, dem Gegenüber auf der Strasse einen Blick, ein Lächeln zu schenken, statt auf einen Bildschirm zu starren. Denn dort spielen sie sich ab, die Geschichten des Lebens. In den Gesichtern anderer. Und die sind nach wie vor dreidimensional.

P.S: Sollte dennoch Hopfen und Malz verloren sein: Generation Z ist am Heranreifen. Und wer weiss, vielleicht werden sie die Bürde zu tragen haben, uns zu «rebooten».
Zurücksetzen.
Alles auf Anfang.

Mikrokosmos versus Makrokosmos

Manchmal hadere ich. Ich hadere, weil ich mir nicht sicher bin. Ich bin mir nicht sicher, was wichtiger ist. Ist es wichtiger, ständig über weltbewegende Themen zu schreiben und damit den bescheidenen, gewöhnlichen, oftmals gewöhnungsbedürftigen Alltagsmomenten den Platz auf dem Podest zu rauben? Ist es wichtiger, ständig über den Alltag und seine Monotonie zu berichten und darüber die weltbewegenden Themen zu vergessen?
Eines mag gewiss sein: Die Summe all jener Alltage, denen wir begegnen, denen wir zu- oder abgeneigt sind, die wir lieben und verachten, all jene Alltage, mögen sie noch so bescheiden sein, zeichnen uns ein Bild. Das Bild der Gesellschaft, in der wir selber leben. Und wenn wir danach Ausschau halten und ein bisschen Glück haben, finden wir in diesen alltäglichen Kleinigkeiten Themen, die die Welt bewegen.

Um diesen Alltagsszenen Raum zu schaffen, gibt es auf Textzentrale.ch die Reihe “neulich in” zu lesen.

Neulich in der Stadt:

  • Ein junges Paar Händchen haltend unter dem Sonnenschutz im Strassencafé. Beide gucken auf ihr Smartphone. Beide lächeln. Ein Lächeln, das nicht dem Gegenüber gilt.
  • Eine Mutter, die ihr schulpflichtiges Kind in einen Buggy gezwängt vor sich her schiebt. Zu wenig Zeit, zu langsam deine Beine, ihre Antwort auf die quälende Frage des Jungen.
  • Ein Fischer am Pier. Er überlässt die Hälfte seines Butterbrots einem Schwan und freut sich über dessen Zuwendung. Der Köder hüpft auf der Wasseroberfläche auf und ab.
  • Eine Frau, die schlanken Beine übereinander geschlagen, das Gesicht einer Göttin, alleine an einem Tisch. Sie nippt am Prosecco, an jedem Finger ein Ring.
  • Ein Tourist, der sich davon ein Bild macht, wie er mit seiner Kamera an einem Stab ein Bild von sich machen könnte. Dutzende von Menschen gehen an ihm vorbei.
  • Ein alter Mann und eine alte Frau in der Menge. Sie halten sich an den Händen. Stützen sich bei jedem Schritt. Kein Wort, nur Blicke.
  • Ein Mädchen auf der Brücke starrt ins Wasser, wirft Kiesel auf ihr Spiegelbild. Wendet sich angewidert ab.

Ich, sitzend und wartend auf der Treppe. Ich sehe euch. Ich sehe euch zu. Doch erst die Erkenntnis macht Sinn.

Smarte Diktatur

Neulich im Zug:

Mein Sitznachbar mit Hipster-Bart und Hipster-Hut langt in seine Hipster-Tasche und zaubert ein iPhone 6 (oder weniger) daraus hervor. Selig lächelnd schmiert er mit dreckigen Tatzen auf dem Bildschirm herum, drückt mal da drauf, dann dort. Es öffnet sich die Wetter-App. Ich bin fasziniert.

Fasziniert, weil der Sitznachbar im Hipster-Look tatsächlich das aktuelle Wetter des aktuellen Standortes aufruft. Ich gucke durchs Abteilfenster. Draussen geht die Sonne im Herbstdunst unter und taucht die Umgebung in mystisches Licht. Es grenzt an Kitsch. Auf dem Bildschirm des iPhones hingegen tanzen Regentropfen. Der Hipster-Junge zieht die Augenbrauen nach oben, schüttelt den Kopf. Schüttelt ihn, als würde er sich nicht damit einverstanden zeigen, was Mutter Natur produziert, während SEINE Wetter-App was ganz anderes dazu sagt. Doch schnell ist das Wetter vergessen. Mit geschickten Fingern werden alsbald Kürzel eingetippt und ins digitale Universum hinausgeschickt. Geschwind folgen Antworten; nicht wenige. Im Sekundentakt ein Piepston, der an Vogelgezwitscher erinnert. Der Hipster-Junge lächelt. Dann das ganze Spiel von vorn.

Der Herr vis à vis im Armani-Anzug, alles andere als Hipster und etwa gleich alt wie ich, liest auf seinem 11×6 Zentimeter-Display die neuesten Nachrichten. Ich beneide ihn um seine Adler-Augen, welche Buchstaben – notabene nicht grösser als Fliegenscheisse – entziffern können. Ich vermute: NZZ/ Wirtschaft. Dass er jedoch „Blick am Abend“ durchblättert, wird mir erst bewusst, als er seinem Nebenmann ein Video zeigt, dabei dämlich grölt und zotige Sprüche über das Mädel reisst, dessen Bekleidung aus mehr oder in ihrem Falle weniger Stoff besteht. Kleider machen Leute, denke ich, und sehe einmal mehr, dass diese Phrase irgendwie nicht stimmen kann. Armani versus Nacktheit. Keiner von beiden gewinnt.

Weiter hinten im Waggon schreit eine Frau lauter als nötig in ihr Telefon. Die Meute im Abteil hört unweigerlich mit. Ihr Mann hat Buntwäsche mit den weissen Hemden und Blusen zusammen in die Trommel gesteckt. Jeder Dreijährige sei intelligenter. Ich zweifle daran und habe Mitleid mit dem Waschbanausen. Nein, verdammtnochmal, Rosa sei nicht das neue Weiss, brüllt die Brünette. Ich lache laut über den Wortwitz ihres Gemahls. Sie schaut böse in meine Richtung. Dann lach ich nicht mehr.

Im Gang steht auf einem Bein hüpfend ein keckes Mädchen; eine kleine Whitney Houston. Ihre Mutter zupft an ihr herum, richtet ihre wilden Locken, bis die Kleine sich genervt wegdreht. Sie rollt mit den Augen. Whitney nimmt ihr Smartphone zur Hand, steckt das Kabel ein und stülpt sich die wuchtigen Kopfhörer über die eben geordneten Locken. Anschliessend schraubt Möchtegern-Whitney demonstrativ die Lautstärke so weit hoch, dass selbst jeder Taube noch den Hip-Hop-Beat durch ihre Hörer vernehmen kann.

Obwohl der Waggon überfüllt ist, kehrt augenblicklich Stille ein. Ein jeder ist mit seinem Samsung Galaxy, iPhone, HTC, Nokia oder wie sie alle heissen mögen, beschäftigt. Absorbiert sozusagen. Früher hiessen sie Adolf Hitler, Francisco Franco, Josef Stalin oder Benito Mussolini. Die bösen Diktatoren, die totalitär herrschten, nach denen sich die Menschheit zu orientieren hatte, jeder noch so kleine Aufstand von ihnen im Keim erstickt wurde. Heute sind es digitale Wunderwerke, die alles können, nach denen sich die Menschen richten, sich gar nach ihnen verzehren und sich nach deren Vorgaben bewegen, ohne je über die Konsequenzen nachzudenken.

In der Tat sind die Geräte smarter als ihre Vorgänger mit Uniform und Schnauzer. Doch wie ihre diktatorischen Vorläufer  nehmen sie Zeit und Raum ein, lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass wir abhängig sind von ihnen, wir nicht mehr ohne sie sein sollen oder wollen. Sie terminieren unsere Tage, ebenso die Nächte. Sie liefern uns den Konsum, nach dem wir so unglaublich begierig die Hände ausstrecken. Als Gegenleistung überwachen sie uns, verfolgen uns und geben uns einen Lebensrhythmus vor, der weder für uns noch andere Lebewesen vorbestimmt ist. Wenn wir das Haus ohne sie verlassen, kommen wir uns eigenartig leer und hilflos vor. Wir stehen mit ihnen auf und gehen nicht ohne sie zu Bett. Wir glauben über sie zu herrschen, doch längst haben sie Macht über uns.

Ich blättere in meinem Notizbuch und kritzle möglichst geräuschvoll diesen Text rein. Ein paar bewundernde Blicke in meine Richtung. Ich fühl mich wie ein Revoluzzer, der sich losgelöst von einem technischen Gerät dank Papier und Stift nicht in der grauen Masse verschwindet. Und es fühlt sich wider Erwarten gut an.