Die Leichtigkeit im Sein

Gestern sah ich dich auf der Wiese vor meinem Haus sitzen. Keine zwei Meter von mir entfernt. Erhaben über alles, zwischen sturmgeknickten Ähren schimmerte dein Federkleid im Licht der untergehenden Herbstsonne. Es schien beinahe, als hättest du dir ein goldenes Gewand übergeworfen, um mich in diesem Moment von deiner leuchtenden Stille zu überzeugen. Und während ich dich dabei beobachtete, wie du mich aus deinen stecknadlkopfgrossen Augen fixiertest, glaubte ich plötzlich daran, dass Sonne und Mond wahrscheinlich nur um deinetwillen existierten, dass Stürme nur deinetwegen tobten. Als wäre alles auf dich und dein goldenes Federkleid ausgerichtet, dass nur du die Macht besässest, allem Tun Einhalt zu gebieten.

Ich streckte die Hand nach dir aus, wollte deine leuchtende Stille auf mich überfliessen lassen, dich ein einziges mal berühren, wenn auch nur flüchtig. Ich wollte mir für mein letztes Kapitel, das ich irgendwann aufschlagen würde, eine Erinnerung schaffen, irgendwann mal erzählen können, wie sich die Ehrfurcht anfühlte, die du heraufbeschworen hattest. Doch im selben Moment breitetest du deine Schwingen aus. Kurz sah es danach aus, als wärst du bereit mich zu umarmen und dich dafür zu bedanken, dass ich dich erkannt hatte. Ohne zu zögern liessest du dich von einem Windstoss erfassen, der wie für dich geschaffen schien, dich Kreis um Kreis höher trug, ohne dass dir ein einziger Flügelschlag abverlangt wurde. Bis du irgendwann nur noch als winziger Punkt am Himmel auszumachen warst.

Zurück blieb ich voller Demut und erkenne hier und jetzt, dass ich das, was ich suche, schon selber bin. Dass Erinnerungen längst da sind und nur noch auf Entdeckung warten.

gewidmet dem Rotmilan, der tagtäglich seine Kreise über meinem Hausdach zieht.

Weshalb Melancholie keine Krankheit ist und man sich trotzdem damit anstecken sollte

«Melancholie ist die schöne Schwester der Trauer.»
Ein Zitat, das mir gefällt. Nachklingt. Könnte ich dieses Zitat heiraten, ich würde es tun.

Häufig wird meinen Texten nachgesagt, sie würden traurig stimmen, unglücklich machen. Jüngst am «café litteraire» beim Besprechen meines neusten Textes war sogar von der «Katja-Schwere» die Rede. Früher hätte mich solch eine Aussage betrübt. Mit Worten zur Last zu fallen – undenkbar und verwerflich. Heute erfüllt mich diese Be- oder Verurteilung zwar nicht mit Stolz, zeichnet mich dennoch aus. Meine Texte sind ich. Und ich bin sie. Frei von aufgesetzten Attitüden. Authentisch. Und ja: auch ab und an voll süssem Schwermut. Daran kann und will ich nichts ändern.

Manch einer mag meine Melancholie als depressive Stimmung und mich als Melancholikerin als Irre abtun. Vor allem den schönwetterlächelnden Dauer-Optimisten bin ich ein Dorn im Auge. Wahrlich sollte die Melancholie zu keinem Dauerzustand verkommen, auszuhalten damit kaum ein Leben. Aber sie spöttisch als Depression zu betiteln und Melancholiker auf irgendeine suspekte Art und Weise zu behandeln, finde ich niederträchtig. Statt sie therapieren zu wollen, sollte sie primär einfach akzeptiert und als «Wechselwirkung zwischen Licht und Schatten» gesehen werden. Eine schöpferische Kraft.

Ich wage zu behaupten, Melancholie ist eine positive Charaktereigenschaft. Was sollte daran falsch sein, das Augenmerk auf die Oberflächlichkeit unserer Kultur, unserer Struktur, unserer Gesellschaft, die ständig auf der Jagd nach Ruhm, Ehre und Vergnügungen an ihrem Streben scheitert, zu legen? Auf Endlichkeit und Vergänglichkeit hinzuweisen, dann, wenn Menschen dazu geneigt sind, abzuheben und Gott zu spielen?

Woher mein Hang zur Melancholie rührt, ist nicht zu verifizieren. Vielleicht ist er genetisch verankert, vielleicht habe ich in meiner Jugend vorwiegend die «falschen» Autoren immer und immer wieder gelesen, die mich dahingehend beeinflusst haben. Vielleicht liegt es einfach an meinem ursprünglich erlernten Beruf, derjenige der Pflegefachfrau, in dem ich frühzeitig mit dem Anfang und dem Ende eines Lebens konfrontiert wurde, in dem ich erkannte, wie unglaublich komplex das menschliche Wesen ist, es nichtsdestotrotz «nur» aus Molekülen besteht und im Kosmos – realistisch gesehen – nichts mehr als eine Nichtigkeit ist.

Ich glaube, und hier spricht die Stimme der Melancholikerin, ein immerwährender tiefblauer Himmel wird früher oder später ganz einfach langweilen. Es ist erst der aufziehende Wolkenbruch, welcher der Sonne die Sicht nimmt, die Kraft raubt, der Spannung erzeugt. Julius, mein Protagonist aus meiner Diplomarbeit, der in einem Traum fliegen kann beschreibt es wie folgt:

[… Jetzt erst erkennt Julius die Wichtigkeit von Licht und Schatten. Dass diese aufeinander abgestimmt, sich im stetigen Wechsel ergänzen. Dass es ihre Bestimmung ist, dem Dasein Konturen zu geben und ihm Tiefe zu verleihen. Dass ohne die Licht- und Schattenmomente all die Leben dort unten nur eindimensionale Projektionsflächen wären. Auch seins …]

Melancholie ist demnach keine Krankheit. Sich damit auseinanderzusetzen oder gar zu infizieren, scheint noch keinem geschadet zu haben.

Nichts als die Wahrheit

Die wohl am häufigsten gestellte Frage Autorinnen und Autoren gegenüber: «ist der Text autobiographisch?» Die Antwort ist weder Ja noch Nein. Sie ist viel komplexer und Schreibende wollen diese Frage nicht gestellt bekommen. Nicht etwa, weil ihnen die Komplexität ein Gräuel ist, wohl eher, weil man einen Politiker ja auch nicht danach fragt, ob er stets die Wahrheit sagt. Weshalb sollte dann ein Schriftsteller gerade zu dieser Frage Rede und Antwort stehen müssen?
Die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion ist verwaschen. Ist manchmal die Fiktion nicht glaubwürdiger als die Wahrheit selbst? Von wie hoher Wichtigkeit ist es für den Leser, wie viel von meinem «Ich» im Text steckt? Ich sage gleich Null. Die Aufgabe eines Textes besteht darin, Bilder auszulösen, zu unterhalten und im besten Fall zum Nachdenken oder Weiterspinnen der Geschichte zu animieren. Ob der Protagonist nun dabei eine Brille trägt, ständig über seine eigenen Füsse stolpert oder den Hang zum Grübeln hat wie ich, spielt keine Rolle.
Und eines sei jenen gesagt, die stets wissen wollen, ob die Autobiographie des Verfassers mitschwingt: Schreibende sind dazu fähig, von zehn verschiedenen ihnen nicht mal bekannten Personen die besten und schlimmsten Eigenschaften herauszufiltern um daraus eine neue Person zu (er)schaffen. Das ist die Freiheit von Literatur oder eben dichterische Wahrheit. Gut möglich, dass auch Sie morgen vertextet werden.

Verletzter Ozean

Das Froilein ist die Tage ein bisschen melancholisch gestimmt. Dieser Zustand verleitet sie in der Regel zum Verfassen von lyrischen Texten. Wer sich das nicht antun will, sei beruhigt. Das Froilein produziert auch anderes.

Ein Wort von
Ein Gedanke an
Ein Bild im
Eine Erinnerung um

Verdrängtes
An der Oberfläche
Aufgewühlt und ausgeliefert
Hin- und hergeworfen

Präsent
Im Schmerz vergangener Tage
Sehnlichst erwartet
Ihr Untergang

Olma-Bashing

Eine Schmähschrift spaltet die Gemüter. Per Wikipediadefinition wird sie wie folgt beschrieben:

«Ein Pamphlet oder eine Schmähschrift ist eine Schrift, in der sich jemand engagiert, überspitzt und polemisch zu einem wissenschaftlichen, religiösen oder politischen Thema äußert. Die sachliche Argumentation tritt dabei in den Hintergrund; die leidenschaftliche Parteinahme gegen eine Sache hingegen überwiegt bei der Argumentation. Die Herabsetzung einer anderen Person wird dabei billigend in Kauf genommen oder ist sogar das eigentliche Ziel des Pamphlets. Diesem Ziel werden Argumentation, Sprachstil und besonders die rhetorische Ausgestaltung untergeordnet: der Herabsetzung des Gegners dienen etwa Verkleinerungsformen oder Tiermetaphern.»

Ralph Weibels Text über die Olma zeigt wie’s geht. Und so lässt das Froilein ausnahmsweise einen Gast auf Textzentrale.ch zu Wort kommen. Zum Brüllen komisch. Findet zumindest die Redaktion. Und Sie?

Olma-Bashing von Ralph Weibel

Verdichtung

Verdichtete Texte haben wie alle Dinge im Leben zwei Seiten. Erstens sind sie viel zu kurz, um ganze Bücher damit füllen zu können. Zweitens lassen sie sich nicht wie einen Roman lesen. Die gute Nachricht: Verdichtete Texte kommen in ihrer Knappheit gehaltvoller, meist auch pointierter daher. Sie klingen nach – manchmal ein Leben lang – und geben zum Anlass ein zweites oder gar drittes Mal gelesen zu werden.

Für mich als Autorin bleiben Dreisatzgeschichten eine Herausforderung im Schreiballtag. Sie sind nicht, wie man denken könnte, einfach schnell hingekraxelt und auf Papier gefestigt. Wie Traubensaft in einem Holzfass müssen sie sich entfalten, um eines Tages ausgeschenkt und verköstigt zu werden.

In diesem Sinne: Ein Hoch auf das Wohl verdichteter Texte. 

Der Blinde und der Sehende
«Strand», schreist du und einige Meter weiter sagst du: «Fischer». Entfernt zu hören das heisere Kreischen eines Schwarmes Möwen. Eisiger Wind peitscht mir ins Gesicht, liebkost meine Konturen und ich sage: «Salz auf meiner Haut».

Der letzte Angeltag
Nach einer langen Zeit des Ausharrens schnappte ein Hecht nach seinem Köder. Er zappelte, wand sich, zerrte an der Angelschnur, japste nach Leben und versteifte sich, bevor er aufgab. Der Hecht indessen schaute das Ende abwartend dem Fischer und dessen Todeskampf zu, machte sich vom Hacken los und verschwand mit dem Köder im Maul in die Tiefe.

Weitere 3SatzGeschichten für Ihr Wohl.