Ein Leben mit Lücken

Vor etwas mehr als einem halben Jahr trennte sich das Froilein von seinem Beruf. Ein Beruf, der ihm nach 25 Jahren Tätigkeit in Fleisch und Blut übergegangen war, der ihm wie ein guter Freund auch über die schlechteren Tage hinweg geholfen hatte. Ein Beruf, dem es ehrlich zugetan war. Doch: zu ausgetreten und routiniert schienen dem Froilein die Wege des Alltags im Gesundheitswesen, zu starr erwiesen sich die Zäune, die ebendiese Wege begrenzten und es somit einschränkten, hin und wieder lausmädchenhaft auszubrechen, neue Ideen zu verwirklichen. An der kurzen Leine gehalten und nach Lust und Laune ausgeführt zu werden, erfüllte das Froilein weder mit Freude noch mit Motivation. Der Wunsch, unbekannte Pfade erkunden zu dürfen, war inniger, als der Wunsch, an alten Normen festzuhalten.
So stand es da. Mit leeren Händen – und was noch viel schlimmer war – mit schwerem Herzen. In einem Sommer voller Sonne tat sich für das Froilein plötzlich ein finsteres Nichts auf, in welches es zu fallen drohte. Plötzlich kreisten seine Gedanken um Fragen wie «kann ich mir das leisten?», «habe ich versagt?» und «weshalb habe ich versagt?», «was ist der Plan?» und «wie zum Teufel werde ich diese Lücke in meinem Lebenslauf erklären können?» Sie waren es, welche seine Sicht verdunkelten und die hellen Tage trübten.

Es hätte verreisen, all die unangenehmen Gedanken hinter sich lassen können. Doch mit Gewissheit wären sie noch da gewesen. Geduldig auf seine Rückkehr wartend. Das Froilein blieb und stellte sich. Seinen Fragen, seinen Sorgen und vor allem sich selbst.
Die Tage und Nächte plätscherten dahin. Die profanen Dinge des Alltags lenkten das Froilein ab, lenkten es in eine andere Richtung. Auf einmal war sie da: Zeit. Zeit für andere Dinge und andere Aufgaben. Ein Garten wollte bestellt, das Gemüse und Obst geerntet und verarbeitet werden. Längst fällige Renovierungsarbeiten am Haus oder eine immer wieder aufgeschobene Wanderung wurden in Angriff genommen. Ein verletzter Streuner, dem Zuwendung gebührte, erhielt des Froileins Aufmerksamkeit und konnte in aller Ruhe genesen. Es ergaben sich vermehrt Besuche bei Eltern und Freunden, Platz für Kaffee und Gespräche.

Und so kam es, dass das Froilein die unbeliebte Lücke im Lebenslauf mit glücklichen Momenten aus- und auffüllte.

Neulich beim Einsortieren:

Als Studienkoordinatorin zeige ich mich verantwortlich für das Einholen der Lebensläufe der Projektmitwirkenden. Auch meinen eigenen – ebenfalls aktualisierten Lebenslauf – heftete ich unter dem Register «Curricula Vitae» ab. In jenem Moment des Abheftens, erinnerte ich mich an meine Angst, die nicht von mir abgelassen hatte, sich an mich klammerte und mich meist unerwartet aus dem Hinterhalt angriff: «Wie zum Teufel erkläre ich die Lücke in meinem Lebenslauf?»

«Curriculum» bedeutet Lehrplan. Ein «Curriculum Vitae» darf demnach als Lehrplan des Lebens bezeichnet werden. Doch was sagt der Lehrplan des Lebens über den Menschen der dahinter steckt aus? Mit wie viel Ehrgeiz er seine Ziele verfolgte, vielleicht? Zeichnet der Ausbildungsgrad automatisch den Wissenstand einer Person ab? Darf ein häufiger Wechsel der Arbeitsstelle als innovativ oder als bedenklich bezeichnet werden? Wie verhält es sich mit der Interpretation von Lücken? Gilt man automatisch als Freigeist? Faulpelz? Oder beides zu gleichen Teilen?

In der Literatur sind Leerstellen gewollt. Sie regen zum Mit- und Nachdenken an. Sie sind es, die den Leser sowohl irritieren als auch fördern. Im echten Leben, fern der Dichtkunst, zeigt die Realität, dass wir nicht mit Lücken umgehen können. Ein «Curriculum Vitae» mit Lücken wird stets weniger begünstigt wahrgenommen als ein Lebenslauf, der fein säuberlich auf 40 oder mehr Jahre chronologisch zurück verfolgbar ist. Allem Anschein vermittelt ein lückenloser Lebenslauf Sicherheit. Zumindest trügerische Gewissheit, dass die Person nichts Verrücktes oder Abwegiges angestellt hat und mit grosser Wahrscheinlichkeit auch nicht noch tun wird. Doch trügt der Schein nicht manchmal?

Kein Mensch schreibt in seinen Lebenslauf, dass da eine Lücke ist, weil er sein Leben in Ordnung bringen wollte, er eine Entziehungskur gemacht hat. Niemand schreibt, ich habe meinen Mann, meine Schwester oder gar mein eigenes Kind zu Grabe getragen und konnte für eine Weile unmöglich meinen Arbeitspflichten nachkommen. Wer erwähnt schon im Lebenslauf, dass Krebs dazwischenkam? Und in welchem steht geschrieben, dass man die demenzkranke und pflegebedürftige Mutter bis zu deren Tod begleitet hat und aus gutem Grund die Arbeit auf der Strecke blieb? Wer hält es für erwähnenswert, seinem Bruder auf dem Hof ausgeholfen zu haben, weil dieser sich plötzlich in der Situation wiedergefunden hat, sich neben der Arbeit auf dem Hof nun auch noch um seine drei Halbwaisen kümmern zu müssen?

Nun gut, Lücken können beschönigt oder auch geleugnet werden. Eine Reise zu den Urvölkern Indiens mit anschliessender Läuterung in einem nepalesischen Kloster scheint nicht nur in den Augen einiger Arbeitgeber sondern auch in den Augen unserer Gesellschaft weniger heftig, zumindest akzeptabler, zu sein, als sich zum Beispiel nach einer Chemotherapie ein Jahr Auszeit zu nehmen. Das eine kann man verstehen, gar nachvollziehen, über die andere Lücke will nicht gesprochen werden. Zu schwer die Last, die damit verbunden ist.

Besteht sie deshalb? Diese bedrückende Angst vor der Lücke im Lebenslauf? Dass zwei Seiten Papier eine ungewollte Wertigkeit widerspiegeln? Ist man automatisch auf dem Arbeitsmarkt und in den Augen einiger Mitbürger weniger wert, wenn eine Leerstelle die Chronologie unterbricht? Und ist man noch weniger wert, wenn der Inhalt der Lücke sich nicht einordnen lässt? Ist dies ein subjektives Empfinden oder bewegen wir uns tatsächlich in einem verqueren Wertesystem?
Fakt ist: niemand – auch nicht der beste und empathischste Arbeitgeber – kann zwischen den Zeilen lesen oder herausspüren, welche Person sich dahinter versteckt. Ohne persönliches Gespräch, ohne das Herantasten an einen anderen Menschen, ohne das konkrete Hinhören hat auch niemand das Recht dazu, ein Urteil zu fällen. Einen Grund sich für eine Lücke zu schämen oder sich deswegen zu grämen, den gibt es nicht. Selbst die grösste Lücke erzählt eine Geschichte.

Zeigt der Autor Mut zur Leerstelle, wird er gelobt. Er verbessert und verfeinert durch das Weglassen von Inhalt den Text. Ist dies nicht Ansporn genug? Jeder darf zu seinen Lücken stehen, egal ob sie in einem Lebenslauf, im Gedächtnis, im Herzen oder sonst wo festgehalten sind. Bisweilen verfeinern sie unser Leben. Mit Gewissheit gewinnt deswegen ein jedes an Tiefe.

Auf ein Neues

Eine lange Zeit blieb es um das Froilein still. Nicht etwa, weil das Froilein schweigen musste, sondern weil es schweigen wollte. Für das Froilein war es ein Jahr voller Abschiede und zugleich eines voller Neuanfänge. Emotionen kamen und gingen. Ebenso Ideen, die keimten und wieder verworfen wurden. Rastlosigkeit wurde durch Musse ersetzt und Spontaneität nahm den Platz von Planung ein.
So plätscherten die Tage des Froileins dahin, keiner glich dem anderen, doch jeder war dazu da, das Froilein aufzufangen, es wissen zu lassen, dass es jenseits aller Geschäftigkeit auch eine Zeit gibt – eine, die es für sich selbst benötigt und die es sich ohne zu fragen nehmen darf.
Mit diesen Worten wünsche ich der Leserschaft frohe Festtage und einen guten Start im 2019 und bedanke mich für die Treue und die Geduld. Die Stille ist es, die es uns ermöglicht, Worte zu finden, die in uns schlummern. Geben wir ihnen die Chance, gehört zu werden. Auch im neuen Jahr.

Im Jahreskreis

Einmal noch
spielt der Abschied mir
eine Schwalbe zu
umhüllt von nimmermüdem Schweigen
schlummert er zerbrechlich
scheint verloren
bis die Hoffnung keimend
ihn an der Hand nimmt
auf ein Neues
Blüten treibt

– katja hrup 2018 –

Der Stein der Erkenntnis

Drei Sätze. Ein Moment. Eine Geschichte.

[…Lene warf unentwegt Steine ins Wasser und starrte auf die Oberfläche.
Erst bei längerem Hinsehen erkannte sie, dass selbst dann, wenn der Stein aus ihrem Blickfeld verschwunden war, er schon längst auf den Grund des Sees gesunken sein musste, sich seinetwegen auf der Wasseroberfläche immer noch Kreise abzeichneten und wellenförmig ausbreiteten.
Nichts konnte die Bewegung aufhalten und Lene begriff, was alles möglich war…]

(aus «Hundstage»von Katja Hrup, unveröffentlicht)

Weitere 3SatzGeschichten können Sie sich hier zu Gemüte führen.

 

Halbzeit!

Selten hat mich ein Turnier derart wenig tangiert, wie die Fussball-Weltmeisterschaft 2018 es tut. Nicht wissenschaftlich belegte Gründe mögen wohl die Ursache hierfür sein. Darunter fallen das angenehme Sommerwetter, die (zu) verplante Freizeit oder etwa das Versäumnis mich beim Tippspiel anzumelden. Ein wesentlicher Grund jedoch ist die fehlende Teilnahme meines Lieblingsteams und der dazugehörigen musikalischen Fangemeinde. Die irren Iren fehlen: sowohl auf dem Platz, der Zuschauertribüne als auch in der Fanmeile. Denn vor sechs Jahren an der Europameisterschaft 2012 haben sie das geschafft, was bislang niemand geschafft hat: mein (Fussballer)herz höher, schneller und weiter schlagen zu lassen. Kurzum haben sie mich damals mit ihrer Begeisterung, ihrer Euphorie und ihrem Lied «the Fields of Athenry», mit dem sie im sonst verstummten Stadion zu Danzig weit über die Spielzeit hinaus ihrem Team Respekt und Liebe zollten, an der Hand genommen und damit mein Herz berührt. Die Iren haben bewiesen, dass es möglich ist, würdevoll zu verlieren und damit den grössten Gewinn zu verbuchen, der beim Sport verbucht werden kann: Fairplay.

Dieses ehrenhafte Verhalten auf und neben dem Spielfeld fehlt mir an dieser WM. Sinnfreie Aktionen von Spielern gefolgt von zeitweise wirklich dummen Äusserungen vermiesen mir die Stimmung derart, dass eine emotionale Beteiligung zum abwegigen Gedanken verkommt.
Zu oft drehen sich die Themen um Nationalismus, schizophrene Herzen, um Mehr- oder Minderwertigkeit, um Unsummen an Geld, das hin und her fliesst. Weshalb? Warum? An wen? Wir sprechen von Superlative. Von vielen Nullen – im wörtlichen, wie im übertragenen Sinn. Was sich da noch um Fussball – einen Mannschaftssport – dreht, frage ich mich?

Dass Fussball mit Politik und Macht im direkten Kontext steht, hat die Autorin bereits in anderen Beiträgen verarbeitet (hier und hier). Dass sich jetzt neben Politikern auch noch Hobby-Wissenschaftler zum Thema «Fussball» einmischen – und damit die wirklich fussballinteressierten Mitbürger, denen es um die 22 Mannen auf dem Feld und sonst um gar nichts geht, aufmischen – ist dann doch auch mir zu viel des Guten. Selbsternannte Pädagogen, Podologen, Ornitologen, Psychologen und Historiker – hier von mir auch Demagogen genannt – scheinen wie Pilze nach einem Herbstregen aus dem Boden zu schiessen, geben sich vermeintlich wortreich zu Aktionen und Themen, die sie entweder schlecht oder gar nicht recherchiert haben und verteilen schlussendlich ihren geistlosen Durchfall in Foren, die der Intelligente besser meidet. Das Schlimme daran? Die Fussball-WM 2018 verkommt zur Rassismus- und Migrationsdebatte schlechthin und entfernt sich so weit vom Thema, wie man sich nur entfernen kann.

Sollten demnach der zweiten Halbzeit die Glanzmomente ausbleiben – und ich rede hier nicht von spektakulären Toren oder Torschützenkönigen – sollte sich die WM-Spirale weiterhin in eine negativ-destruktive Richtung entwickeln, werde ich ausschalten müssen, bis die Iren eines Tages wieder dafür sorgen werden, dass ich meine Meinung zum Thema Fussball revidiere. Zwischenzeitlich gönne ich mir hin und wieder «the Fields of Athenry» aus dem Jahre 2012. Für mich nicht nur ein Lied, sondern ein Gefühl. Videobeweise dazu bestehen genug.

Die Entmystifizierung der Dinge

Als wir Kinder waren, wurde uns oftmals ein X für ein U vorgegaukelt. Vielleicht, weil die Erwachsenen von damals sich gerne mal einen Scherz auf Kosten der Kleinsten erlaubten, vielleicht auch, weil sie gewisse Tatsachen ausblenden, der eigenen Rationalität entfliehen wollten. Gut möglich, dass es teilweise schlicht und einfach auch auf Unwissen der Erwachsenen basierte, wenn sie uns Kindern etwas vorschwindelten. Als wir den Scherzen der Grossen jeweils auf die Schliche kamen, folgte in der Regel postwendend der Rachefeldzug mit ausgeklügeltem Schlachtplan. In der mit Imagination gesegneten Welt von Kindern ein leichtes Spiel.
Sie erkennen das Muster? Heute agieren Sie als der erwachsene Part, tischen hin und wieder den Kleinen ein paar Ungereimtheiten auf? Und lachen sich dabei klammheimlich ins Fäustchen über den gelungenen Streich? Seien Sie auf der Hut.

Denn es gibt sie. Die unverzeihlichste Lüge aller Zeiten schlechthin: «kleines Froilein, aus jeder Raupe wird einmal ein wunderschöner Schmetterling», sagten mir meine Eltern, Grosseltern und jeder, von dem ich es hören wollte. Ich sammelte Raupen und verbrachte Stunden damit, ihnen ausgewähltes Futter zu reichen, ihnen beim Verpuppen zuzusehen, nur um die Verwandlung jeweils zu verpennen. In meinen infantilen (Tag-)Träumen sah ich Schmetterlinge in allen Farben über die Gänseblümchenwiese fliegen, selbst die fetteste und scheusslichste Raupe war in meiner Vorstellung positiv konnotiert. Es ging soweit, dass ich daran glaubte, dass alles und alle eine Verwandlung durchmachen und etwas Wunderschönes daraus entstehen würde. Man liess mich in diesem Glauben. Etliche Zeit später, ich konnte zwischenzeitlich lesen und mir Wissen aneignen, deckte ich den Betrug auf. Spätestens in meinen Anfängen als Hobbygärtnerin, stellte ich fest, dass Raupen mitnichten immer schöne Schmetterlinge werden und sowohl Raupe wie auch der gemeine, hinterhältige und fresssüchtige Käfer (der mal Raupe war) innerhalb einer Nacht eine Schneise durch wachsendes Gemüse schlagen können, wenn sie denn wollen.

Nein, augenscheinlich verwandelt sich nicht jede Raupe in einen Schmetterling. Schliesslich verwandelt sich ein Tixi-Klo auch nicht in eine Edeltoilette. Da kann man Philippe Starck ranlassen, wie man will. Ein Tixi-Klo bleibt ein Scheisshaus sondergleichen und kommt einer selbstgebauten Latrine im Pfadfinderlager doch sehr nah. Eines, in das man nur mit 25 Promille intus oder als Stehpinkler freiwillig einen Fuss hineinsetzt.
Selbst bei Menschen sehen wir keine durchschlagenden Erfolge in der Causa «Raupe wird Schmetterling». Nicht einmal der Neuling, der gerade aus dem Geburtskanal gedrückt wurde, zyanotisch schreiend und blutverschmiert auf Mutters Brust liegend (der in seinem Leben öfters mal insgeheim darum betteln wird, man möge ihn wieder dort hin stecken, woher er gekommen war) hat das Prädikat Schmetterling verdient. Denn Achtung: einer Metamorphose liegen mehrere Faktoren zu Grunde, als nur geboren zu werden, zu futtern und sich dann zu verpuppen. Allgemeinhin bekannt als: Erziehung, Werte, Selbstbild.

Ein Beispiel: ein Vollidiot, der rassistische und frauenfeindliche Polemik betreibt, bleibt einfach ein Vollidiot, der rassistische und frauenfeindliche Polemik betreibt. Selbst ein vorangestelltes «Mister President» richtet in diesem Fall nichts mehr aus. Da kann man Philippe Starck ranlassen wie man will. Ein Scheisshaus bleibt ein Scheisshaus.

P.S: Die im Vorfeld Zeter und Mordio schreienden Medienschaffenden, welche dem Vollidioten während seines Aufenthaltes in der Schweiz in Habachtstellung salutierten und ihm Ehre erwiesen, sind sich hoffentlich bewusst, dass die Authentizität ihrer Artikel sowohl jetzt als auch in Zukunft in Frage gestellt werden. Bisweilen ersetzen solche Artikel und Zeitschriften – meiner Meinung nach zu Recht – das Scheisspapier in Tixi-Klos.