Neulich in der Mensa:
Letztens sass ich leicht betrübt beim Mittagessen. Zu voll, zu laut, zu hektisch, zu alles störte meine Sinne. Just im Moment, als ich mir überlegte, ob ich die Mahlzeit als geniessbar durchgehen lassen oder ihr doch lieber die Note «ungenügend» aufbürden sollte, schob sich vom rechten Tellerrand ein Schneckenhaus in mein Blickfeld. Mittelgross, mit schwarz-weissen Rillen und ohne irgendwelche sichtbaren Beschädigungen lag es auf einem roten Peperonistück, als hätte es sich darauf gerettet. DER wahr gewordene Albtraum eines jeden Veganers. Von dieser Tatsache fasziniert, vergass ich alles um mich herum, schob gedankenverloren mit der Messerspitze das Schneckenhaus mitsamt seinem Rettungsboot durch die Sauce, tunkte es darin ein, einzig und alleine um zu sehen, ob es absoff oder oben aufschwimmen würde. Ich schob es hin und her. Von rechts nach links. Wieder zurück. Drapierte es derweil am Tellerrand, richtete es neben den Nudeln her, als würde ich die korrekte Position für ein Stillleben zu finden versuchen. Sozusagen den goldenen Schnitt festlegen wollen. Restlos erstaunt darüber, dass das Häuschen einen Kochvorgang als Ganzes überlebt hatte, war ich – während sich die anderen am Tisch über Ungeziefer im Essen echauffierten – im Begriff ein Loblied auf die Überlebenskunst gewisser Individuen anzustimmen, wollte euphorisch diesen triumphalen Sieg der Fauna feiern. Dann jedoch sah ich, dass die Schnecke ausgezogen war. Niemand wusste wohin. Ich hob den Teller an, um zu sehen, ob sich darunter ein nacktes Etwas beim Fluchtversuch festgeklebt hatte und nur darauf wartete in einem unbeobachteten Moment sein Heim zurückzuerobern. Ich kontrollierte auch die leergeputzten Teller meiner Nachbarinnen. Ohne Erfolg. Weshalb zum Teufel, fragte ich mich, hatte eine kleine Schnecke solch einen trostlosen Abgang verdient? Kläglich zu verenden? In einer Kantinenmahlzeit? Ohne Aussicht auf Wiedergeburt? Ich fühlte mich noch elender als zu Anfang der Mahlzeit.
Hin und wieder werde ich belächelt. Für solche Gedankengänge. Für das ausschweifende Abschweifen in ungeahnte Tiefen. Mir ist das egal. Für etwas sollte das Ding namens Denkorgan genutzt werden. Der Mensch, ja der ist dazu befähigt, seine Gedanken spiralförmig in immer weitere Dimensionen vordringen zu lassen, daraus die herrlichsten Geschichten zu spinnen. Es mag viele Gründe geben, weshalb er sich davor fürchtet, es gar tunlichst unterlässt, sich nur ungern auf das Verheddern von Gedanken einlässt. Sie hier aufzuzählen, würde den Rahmen indes sprengen.
Wir sehen den Wald, wenn es hoch kommt noch einen Baum. Doch wer sieht den Trieb der jungen Rotbuche, der durch das modrige Laub vom Vorjahr bricht und sich gegen den Himmel reckt?
Wir sehen den Regen, meist zu viel davon, übersehen jedoch den Regentropfen, der sich über die Fensterscheibe zieht, dabei ein Muster hinterlässt, bevor er sich mit einem anderen Regentropfen vereinigt und zum Rinnsal wird.
Wir nehmen die vielen «Dieda’s» wahr, sehen aber nicht, wie Youssef in der Küche des Grandhotels an der Spüle steht, ein Lied pfeift und dazu mit den Hüften wippt, während er stundenlang dreckiges Geschirr entgegen nimmt.
Tag für Tag arbeiten wir auf die grossen Momente des Lebens hin und übersehen dabei oftmals die kleinen Dinge. Sie sind es, die uns ein Lächeln ins Gesicht zaubern, die unsere Synapsen tanzen lassen, Endorphine ausschütten. Es sind die kleinen Dinge, welche «grosse» Geschichten schreiben. Wer den Mut aufbringt, seine Linse auf Zoom zu stellen, wird sich vielleicht ab und zu erschrecken, sich öfter wundern. Schlussendlich nennt sich das aufkommende Gefühl dabei dann ganz einfach: «glücklich sein.»