Es komme was da wolle, um sie kommt keine Menschenseele rum. Egal ob man sich für Fussball interessiert, ihn hasst oder einfach nur gerne Bier trinkt und dabei Fussballverrückten zusieht, wie sie sich das Haar raufen, jubeln oder den Tränen der Enttäuschung freien Lauf lassen: Die Fussball-WM ist so sicher, wie das Amen in der Kirche. Keine Überschwemmung, kein Orkan, kein Krieg, ja, ich behaupte nicht mal ein Meteorit so gross wie das Wallis (auf die Erde zurasend) könnte Sepp Blatter und seine Fifa davon abhalten, eine Fussball-WM durchzuführen. Im Vierjahres-Turnus stehen Elfer-Teams ihren Mann und der Rest der Welt steht Kopf. So war es und so sei es.
Ich hingegen stehe der WM mit grösster Ambivalenz gegenüber. Ungewollt. Auf der einen Seite finde ich es herrlich zuzuschauen, wie Männer wieder zu Buben werden, nächtelang über einen versauten Pass oder ein Foul streiten können, weil wieder ein Idiot im Abseits stand. Wie plötzlich Business-Frauen sich das T-Shirt ihres Lieblingsteams überstreifen und laut “mier sind alles geili Sieche” mitgrölen, als würden sie das jeden Abend nach der Arbeit tun. Wie das Tippspiel-Fieber ausbricht, auch bei solchen, die nicht die leiseste Ahnung vom Kicken haben. Wie Kinder Panini-Bilder sammeln und mit ihren Vätern an Tauschbörsen auf die Pirsch gehen, als ginge es ums nackte Überleben. Wie aus purer Leidenschaft für einen Ball völlig unerwartet Menschen aufeinander zugehen, neue Gruppierungen entstehen, an die man vorher nicht im geringsten gedacht oder geglaubt hätte. Wie Nächte zu Tage werden, irgendwie alles ein bisschen verrückter und entrückter läuft. Das Alltägliche in einem ungewohnten Rhythmus schwingt.
Auf der anderen Seite sehe ich verarmte Staaten, die überdimensional grosse und exorbitant teure Stadien bauen, die sicherlich nicht für die Ewigkeit gedacht sind. Angrenzend an Elendsviertel, wo Menschen dahinsiechen, weil nicht genügend Trinkwasser und medizinische Versorgung vorhanden ist, geschweige sie es sich leisten könnten ihre Kinder auf eine Schule zu schicken. Wie Einheimische auf den dreckigen Strassen lauthals protestieren – auch ausserhalb der Spielsaison für ein besseres Leben kämpfen – deren Schreie jedoch im Gejohle von Fussballfans untergehen. Wo Verständnis und Missverständnis in den Köpfen und Herzen der Bewohner so nahe beieinander liegen müssen, dass sie sich gelegentlich berühren, gar überschneiden und sie sich ab und zu schizophren vorkommen mögen. Sie wissen: Die WM bringt Geld. Ein Grund zum Feiern. Doch sie wissen auch, dass es sie viel gekostet hat. Nicht nur an materiellem Wert.
So sind sie. Die zwei Seiten einer Medaille. Muss ich sie verstehen und über sie urteilen? Ich glaube nicht, denn es liesse sich über so einigen Sinn und Unsinn streiten. Nur: Ich denke daran, dass ich nicht davon betroffen bin, dass nicht ich es bin, deren Land man sich bedient, mich umgesiedelt hat, damit irgend ein berühmter Star auf dem Platz, auf dem ich vor einiger Zeit noch gelebt habe, das Runde ins Eckige bringt und vielleicht, ja nur vielleicht, das Spiel seines Lebens spielt.