Im Rhythmus der Schwellen (Zürich liest 2013)

„Schau mich bitte nicht so an“, höre ich Alma aus der Ferne sagen. Wie immer, wenn ich es am wenigsten erwarte, gesellt sie sich zu mir. Unterwegs im Zug, finde ich im Abteil Geborgenheit und Zuflucht. Ein Kokon, den ich mir selber schaffe. Während vor dem Fenster Bilder kommen und gehen, beobachtet mich Alma aus weit aufgerissenen Augen. „Warum?“, scheinen sie zu fragen ohne eine Antwort abzuwarten. Weiche Locken schmiegen sich um ihr Gesicht. Ein Gesicht, das nicht recht in diesen Rahmen passen will. Zu streng. Zu ernst. Zu entrückt. Den Kopf auf eine Hand abgestützt und ans Fenster gelehnt, erinnert sie mich an ein Kind, das sehnsüchtig nach Kameraden Ausschau hält. Als Alma eine Haarsträhne in die Augen fällt, strecke ich meine Hand nach ihr aus. Es ist ihr leerer Blick, der mich zögern lässt und an einer liebevollen Geste hindert. Nun hängt meine Hand wie ein Fremdkörper an mir herunter. Überflüssig geworden. Ein hartes Ruckeln reisst mich aus meinen Gedanken, die ich wie Perlen auf einen Faden aufschnüre und katapultiert mich zurück in die Gegenwart. Ich sehe mich um. Und schlucke schwer. Der Mikrokosmos füllt sich mit Schweigen.

Draussen verwischt die Dämmerung alle Konturen und verliert den ewigen Kampf gegen die Dunkelheit. Strassenlaternen schwanken wie Betrunkene, ohne Halt und ziellos. Sie ziehen Schlieren in die gähnenden Strassenschluchten. Tauchen ab, um sich an einer anderen Stelle wieder an die Oberfläche zu wagen. Verbotene Einblicke in Schlafzimmerfenster. Geschichten, die im Eiltempo vorbeiziehen und viel zu schnell erzählt sind. Hier und da ein hoffnungsvolles Aufglimmen. Städte im Auf und Ab der Wechselbäder. Städte, die wir nicht kennen und trotzdem kommen sie uns vertraut vor. Sternschnuppen setzen Zeichen in den Himmel und beschliessen das Schicksal der Reisenden. Und Alma allgegenwärtig. Im Rhythmus der Schwellen flüstere ich ihren Namen bis sie neben mir den Platz einnimmt, der für sie vorbestimmt ist. Augenblicklich fällt alles Unpersönliche von uns ab. Ihren Kopf an meine Schulter geschmiegt, lassen wir uns wortlos treiben. Alma ergreift meine Hand. So kalt und bleiern ihre Glieder, so heiss und voller Leben die meinigen. Sie zeichnet mit ihren Fingern meine Furchen nach, dessen Linien angeblich über Leben und Fügung entscheiden sollen. „Du musst mich gehen lassen“. Ihre Worte scheiteln Zeit und Raum.

Und jäh, ohne jegliche Vorwarnung melden sie sich an. Unwillkommen. Fetzen, die sich mir aus den Regalen meiner Erinnerungen aufdrängen. Die Geschichte von Milan, meinem Mitstudenten und mir. Wir zwei junge Männer, vorbei an serbischen Schergen mit finsteren Mienen und Sturmgewehren. Waffen, die uns beiden gleich, auf Irrwegen aus der Schweiz ins Krisengebiet gelangt waren. Befehle in einer Sprache, die ich nicht verstand. Laut und unwirsch. Milan verhandelte. Zigaretten und deutsche Mark wechselten in grober Manier die Hände. Unser Pfand für den Durchlass hinüber auf die andere Seite. Hinüber nach Bosnien-Herzegowina und Sarajevo. Zu Milans Familie. Oder zumindest was davon übrig geblieben war. Waren wir mutig? Oder einfach lebensmüde? Srebrenica, Kriegsgefangenenlager und Massenvergewaltigung. Begriffe, die mir nicht fremd waren. Tageszeitungen unterhielten die verwöhnte Masse mit schaurigen Berichten. Doch auch diese konnten mich nicht auf die Bilder vorbereiten, die über mir hereinbrachen, als ich Sarajevos Erde das erste Mal betrat. Ich atmete die belagerte Luft ein und würgte sie herunter. Dann kotzte ich mich aus. Mein Herz hielt inne und verlangte nach Wiederbelebung. Ich, der angehende Journalist, suchte verzweifelt nach Worten für einen Frieden, der knapp drei Monate zuvor mit Papier und Stift besiegelt worden war. Die Stadt systematisch zerstört. Zerbombt und in Rauch aufgegangen. Die seltenen Begegnungen zwischen Schutt und Asche wurden von einem unsichtbaren Feind überschattet. Sein Name: Misstrauen. Er hatte die Menschen in seiner Gewalt. Wo es einst unwichtig war, zu welchem Gott man betete, wo man sich die Hände reichte und auf Bruderschaft anstiess, dort zogen nun neue Linien Grenzen durch die Landschaft und die Köpfe der Bewohner. Sarajevo war eine klaffende Wunde. Ausgeblutet. Eine Geisterstadt. Eine Stadt voller Geister. Der Schnee auf dem Igman würde nie wieder weiss sein.

Mit den Gedanken zurück im Abteil lausche ich im Rhythmus der Schwellen Almas Atemzügen. Das sanfte Wiegen gaukelt uns beiden Glück vor. Ich decke uns damit zu. Alma soll nicht frieren. Nicht in der Kälte eines Vakuums ausharren, für das niemand von uns verantwortlich ist. Während sie in meinen Armen ruht, zerren die Erinnerungen an ihr und ziehen sie weg von mir. In die Gegenrichtung. Zurück nach Bosnien.

Damals hausten Milan und ich im ungeheizten Kellerverschlag von Milans Onkel und Tante. Diese waren in Kriegszeiten ins Bett von Milans Eltern geschlüpft und kämpften an ihrer Statt ums Überleben. Die heruntergekommene Bleibe, Zufluchtsort und Konfliktherd in einem. Eisig waren sie, die Morgenstunden, die auf unsere kurzen Nächte folgten. Bittersüsse Januarkälte setzte sich in den Knochen fest. Klamme Finger, die wir an Teetassen ohne Henkel wärmten. Allerorts leere Mägen und Winterhusten. Kinder spielten zwischen Steinhaufen und verminten Strassen im Dreck Verstecken und kicherten. Krieg schloss Frieden nicht aus. Eine Alte streichelte mein Haar. Immer und immer wieder. Milan übersetzte. Milan zeigte mir die Plätze, die einst sein Leben bestimmten. Noch bevor ihn Onkel Adnan abgeholt hatte und er sich in der Schweiz neue Plätze suchen musste. Für Milan gab es nur ein Vorher und ein Nachher. Das Dazwischen liess er aus. Und Milan, nun verwaist, wollte, dass ich verstand. Doch ich, ich begriff gar nichts mehr. Bei einer Erkundungstour am Morgen des fünften Tages sah ich eine junge Frau mit weichen Locken im alten osmanischen Handelsviertel Baščaršija neben dem Sebilj-Brunnen stehen. Im Gegenlicht der aufgehenden Wintersonne schirmte sie mit den Händen die Helligkeit ab und schien den Platz zu studieren. Sie steckte in einem viel zu grossen abgewetzten Mantel, der um ihren Körper schlackerte und dessen Ärmel weit über ihre Hände reichten. Da stand sie. Stolz, schön, ungebrochen. Sie lächelte. Das Bild des aus der Asche steigenden Phoenix’ drängte sich mir auf. Inmitten von Trümmern war sie der Lichtblick Sarajevos und weckte in mir eine tiefe Hoffnung für Menschen, die ich nicht kannte. Doch dann: Milan, der mich zu Boden riss und mir zubrüllte, ich solle liegen bleiben. Ein unablässiges Rauschen in meinen Ohren. Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten. Entfernt ein klagender Schrei „Alma! Alma!“ Aus meiner Perspektive sah ich die junge Frau einknicken. Ihren Blick auf mich gerichtet, lehnte sie sich an den Brunnen und atmete schwer. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Verzweifelt streckte ich meine Hand nach ihr aus. Augen, die sich mit Tränen füllten, ihre und die meinen. Dann entschwand sie. Alma Beganovič erhob sich aus der Asche und flog davon.

Aufwachen, mein Herr. Zürich, in 45 Minuten. Ein Poltern und das vertraute tatam-tatam-tatam holt mich zurück ins Diesseits. Meine Wangen sind feucht. Ich schaue mich um, suche, ohne zu finden. Ein Gefühl von Verlust überkommt mich wie eine gewaltige Woge. Im Rhythmus der Schwellen bricht sie über mir zusammen und klopft an meine Gestade. Alma. Allgegenwärtig.