Aus aktuellem Anlass

In Gedanken bei den Menschen in der Ukraine. In Gedanken bei all jenen, die ungewollt in unnötige Kriege mit hineingezogen werden. In Gedanken, bei den Müttern, die ihre Söhne ziehen lassen müssen und sie nie mehr sehen werden. In Gedanken bei allen, deren Leben in Bahnen gelenkt werden, die man keinem wünscht.
Einst sagte mir mal jemand: “jeder ist seines Lebensweges eigener Chauffeur”. Das mag wohl stimmen. Dennoch sollten wir uns erinnern: nicht jeder hat das Privileg, sich die Wege, auf denen er unterwegs ist, selbst auszusuchen.

Abseits des Wegs 

Sie sitzt am Straßenrand. Staub wirbelt auf. In ihren Armen ein Bündel zerknautschter Wäsche. Zwischen den Lumpen ein Stück Fleisch. Es atmet nicht mehr, leblos das Ärmchen.

Sie wippt vor und zurück, zurück und vor. Im immer wiederkehrenden Rhythmus. Sie will nicht hasten, ein bisschen verweilen. Staub wirbelt auf und trocknet ihre Tränen, rascher als es ihr lieb ist.
Ein Konvoi zieht vorbei, dann ein zweiter. Panzer stampfen Rautenmuster in den Kies. Auf den Ladeflächen Gewehre und Patronen, rein und unverbraucht. Noch haben sie keine Leiber durchbohrt und keine Knochen zersplittert. Noch haben sie kein Leben zerstört. Noch könnte man sich von dem Unheil abwenden, das hinter dieser neu gezogenen Grenze tobt und wie ein Orkan über ihre Heimat hinweg fegt. Doch keiner tut’s. Die einen rennen davon, die anderen direkt hinein. Als wäre es vorbestimmt.
Sie streichelt das schmale Bündel. Ihr Kind. Wie gerne wäre sie mit ihm die ersten Schritte gegangen, hätte sein Händchen zuerst noch in der ihren gehalten, warm und sicher um es eines Tages, wenn die Zeit reif dazu gewesen wäre, loszulassen. Wie gerne hätte sie ihr Mädchen zum Lächeln gebracht. Nie wäre sie von diesem Anblick satt geworden. Voller Freude hätte sie ihrem Kind die kleinen Wunder dieser Welt gezeigt. Ihrer Welt, so wie sie sie kannte, gut und schön, voller Liebe und Musik. Doch die Musik um sie herum war seit einer gefühlten Ewigkeit verstummt. Mächtige Worte aus dem Äther hatten eine neue Zeit angekündigt. Das Geratter von Maschinengewehren ist an die Stelle der lieblichen Melodien getreten, nimmt deren Platz ein. Füllt die Tage aus. Ebenso die Nächte.
«Liebes, wir können sie nicht mitnehmen», sagt er und zieht ihr die Kleine sanft aus den Armen, die sich daran klammern, als gäbe es sonst keinen Halt. Er küsst das Kind auf die kalte Stirn, bettet es in den Straßengraben auf Laub vom Vorjahr und deckt es mit Birkenästen zu. Sie kann sich nicht rühren, beobachtet ihn, wie er sich verabschiedet. Und bewundert seine Stärke.
Nie hätte sie gedacht, dass ihre Milch versiegen könnte, dass sie als Mutter versagen würde. Sie hätte gerne getauscht, in diesem Moment sich mit dem Birkenlaub bedeckt, dem Himmel noch einmal gute Nacht gesagt und sich für immer schlafen gelegt. Gerne hätte sie ihrem Kind eine angenehmere Reise ermöglicht. Wie unglaublich unnatürlich ihr das alles vorkam. Selber am Leben zu sein und das Kind alleine zurückzulassen. Das Atmen fällt ihr schwer. Sie legt die Hände über die Augen, will nichts mehr sehen, muss dieses Bild vergessen. Doch es reißt ihr ein Loch in die Brust. Brennt, als hätte eine Kugel sie durchschlagen.
«Sie wird frieren. Unser Mädchen wird in diesen klaren Nächten frieren», sagt sie und erwacht aus ihrer inneren Starre. Sie nimmt ein Birkenästchen und legt es zu den anderen über den kleinen ausgehungerten Körper.

Er schweigt. Sie schweigt.

«Lass uns gehen. Das Monster kommt schon näher.» Er zieht sie zu sich und schenkt ihr eine kurze Umarmung. Er streicht ihr die Haare aus dem Gesicht und wischt liebevoll mit dem Zipfel seines Ärmels den eingetrockneten Staub von ihren Wangen. Wie gerne würde er tauschen, sein Leben für das des Kindes hingeben, das ihnen genommen wurde, weil hinter den Grenzen das Grauen wütet und sie ungefragt diesen beschwerlichen Weg auf sich nehmen mussten. Lieber hätte er seine Frau lächeln sehen, wie damals am Tage ihrer Hochzeit und bei der Geburt der Kleinen. Er würde tauschen, wenn er könnte. Doch er kann nicht. Und er hört sein Herz in zwei Stücke brechen.
Niemand sieht den Abschied auf der Landstraße. Keiner hört das leise Schluchzen zweier Menschen. Der Wind sucht sich seinen Weg durch die Äste und der Wald summt ein ganz eigenes Lied. Der Tag löst sich auf und die Nacht übernimmt die Schicht. Raketenfeuer erhellen den Himmel, setzen Zeichen in die Luft. Sie beide laufen, drehen sich nicht um. Hasten, hetzen, rennen so lange ihre Füße sie noch tragen mögen. Den Konvois entgegen, die ins Verderben fahren. Sie laufen weg von der Katastrophe, die immer näher aufrückt. Hand in Hand. Nur noch in Lumpen gekleidet. Ein Bündel weniger im Gepäck.
Das Böse ist da und macht vor niemandem halt, denkt er und betrachtet seine Frau von der Seite. Nicht vor ihrem Häuschen, das etwas abseits des Dorfes nahe dem Waldrand steht und frisch gekalkt ist. Auch nicht vor dem Garten, der getränkt mit ihrem Schweiß, die Früchte ihrer harten Arbeit trägt. Zerstört alles Vertraute, als wär’s nie gewesen. Lenkt Geschichten in fremde Bahnen, löscht sie unwiderruflich aus. So dachten sie beide noch vor einer Weile, sie könnten standhalten, sich auflehnen, ihre Liebe und ihre Trauer seien stark genug um gegen das Elend anzukommen. Doch es walzt über alles hinweg. Überrollt die Lebenden und die Toten.
Armeefahrzeuge ziehen vorbei. So viele, dass man sie nicht mehr zählen mag. Sie sieht auf den Ladeflächen zukünftige Mörder, junge Männer, kaum Flaum ums Kinn, meist noch Kinder. Ihre Gesichtszüge eingefroren zu Masken von Kämpfern. Wie man es von ihnen erwartet. Sie denken nicht nach, befolgen Befehle. Dürften sie sprechen, würden sie ihr zujubeln und rufen: Keine Sorge Mütterchen, du wirst sehen, wir werden es richten. Doch sie schweigen. Und so ziehen sie dahin, ins Verderben, dorthin wo es erbarmungslos zu und her geht. Jeder auf sich alleine gestellt. Und sie weiss: Ihre Mütter werden sie beweinen, all jene die auf dem Feld und in den Schützengräben ihr Leben lassen müssen. Sie werden um ihre Kinder weinen, wie sie gerade ihres beklagt. Davon wissen sie noch nichts. Weder die jungen Männer noch deren Mütter. Noch sind sie stolz. Sie sind Soldaten und halten die Gewehre im Anschlag. Sind bereit zu töten, vielleicht auch bereit für ihr Vaterland zu sterben. Durch Patronen so jungfräulich, wie sie selbst.

Staub wirbelt auf. Die Landstraße revoltiert noch. Er ist da. Krieg.

Einfach einfach

Foto: Langis. Katja Hrup, 2019

Auf dem Nachhauseweg

Eisige Nacht.
Aber der Mann auf dem Gehsteig,
den Kopf im Nacken,
rührt sich nicht.
Sein Blick steckt fest
in einer Sternverwehung.

Rainer Malkowski (1939-2003)

Liebe Leserschaft

Das Froilein bekennt sich als grosser Fan von Rainer Malkowski. Er war ein Künstler der Verdichtung, der Lyriker, der der Einfachheit und der Lakonik etwas federleichtes verlieh und dennoch: wer seine Gedichte liest, merkt rasch, dass in der Einfachheit auch das Gewicht der Welt liegen kann.

Liebe Leserschaft, das Froilein wünscht Ihnen nicht alle möglichen Gaben. Das Froilein wünscht Ihnen vor allem viele Sternverwehungsmomente, die Sie berühren. Es wünscht Ihnen unzählige Blicke in den weiten Himmel. Mögen Sie dabei immer und immer wieder Ihre Träume und Ihre Gedanken auf eine Reise schicken, im Wissen, dass diese irgendwann und irgendwo ankommen werden.

Herzlichst, Ihre Schreiberin

Des Teufels Divis

Er besudelt, verunstaltet, zerstückelt in einem fort, was nicht zu zerstückeln gilt. Trennt ohne Scham, was zusammengehört. Verankert sich im Unterbewusstsein. Karzeriert, bevor er in einem ungeahnten Ausmass zu wuchern beginnt. Verbreitet sich wie ein Virus und selbst erfahrene Schreibende sind vor einer Ansteckung nicht gefeit. Zum Schluss die Tragödie: der Leselandschaft Tod. Ersetzt durch eine Strichlandschaft. Ein Schlachtfeld auf dem Papier. Ein Bild des Grauens.

Der Binde- oder Trennstrich, auch Divis genannt. Er ist des Teufels, liebe Schreibkräfte! Nichts gegen einen Strich – wenn er denn richtig gesetzt wird. Doch was mir in letzter Zeit selbst in namenhaften Zeitschriften aufgetischt wird, springt mir regelrecht ins Auge, sticht zu, rüttelt an meinen Seh- und diversen anderen Nerven. Deppenbindestrich über Deppenbindestrich. Kopfschütteln über Kopfschütteln.

Es ist und bleibt mir ein Rätsel, weshalb Schreibende und Korrektoren beider Geschlechter dazu neigen, Substantive, die jahrelang zusammenhängend geschrieben wurden, durch einen Bindestrich zu trennen? Weshalb wird aus Käsekuchen plötzlich Käse-Kuchen? Schmeckt er dadurch besser? Mehr nach Käse? Oder kuchiger? Schmeichelt ein Bier aus dem Zapf-Hahn an einem Mittwoch-Abend den Gaumen mehr als an einem stinknormalen Mittwochabend? Und was passiert wirklich in einem Bildungs-Institut, so frage ich mich?

Nicht die Tatsache, dass die Verwüstung durch Bindestriche den Lesefluss ruiniert, sondern wohl eher diejenige, dass die Schreibkraft sich gedankenlos und unwillkürlich irgendwelcher Interpunktionszeichen bedient und mit dieser Unart der Leserschaft keine zusammenhängenden Wörter mehr zutraut, stört mich. Liebe Schreibende: Satzzeichen haben eine Wirkung, sagen etwas aus. Sogar, wenn sie weggelassen werden.

Erinnern wir uns doch an Mary Poppins und ihr «supercalifragilistigexpialigetisch». Wohlwahr: Bereits im Primarschulalter ist ein Kind fähig, längere Wörter zu lesen, auszusprechen, gar zu singen ohne über Bindestriche zu stolpern. Oder rufen wir uns «s’Totemügerli» von Franz Hohler ins Gedächtnis; ein Elaborat sondergleichen. Vor zusammengesetzten Substantiven, ausdauernden Verben und Adjektiven nur so strotzend. Vom berndeutschen Dialekt mal diskret abgesehen, ist uns doch dieser Lese- und Sprachakt in der Regel gut gelungen, auch ohne jegliche Trennstriche, nicht wahr?

In  diesem Sinn: wer setzt, dann richtig. «Rien ne va plus» heisst nicht, beim Verfassen von Texten damit aufzuhören, sich mit Rechtschreibung zu beschäftigen. Bedeutet jedoch nach wie vor, seine Texte zu hinterfragen, zu prüfen und sie immer wieder von der Leserseite auszuleuchten. Man kann über Grammatik und Rechtschreibung pfuttern wie man will, doch so sind es die sauberen stilvollen Texte, die mich überzeugen, glaubhaft wirken. Alles schludrige geht mir gegen den Strich.

Übrigens: wer jetzt denkt, «na, dann lass ich die Deppen-Binde-Strich-Scheisse einfach weg», der sei gewarnt. Ein Leerzeichen zwischen Wörtern die zusammengehören, wird Deppenleerschlag genannt und macht die Sache nicht besser.

Tag der Frau, Frauenstreik 2019

Sie spaltet mich. Die Angelegenheit spaltet mich in gefühlte 27’000 Stücke. Stücke, die sich miteinander und gegeneinander verschwören, weil sie sich nicht einig sind. Am Frauenstreiktag 2019 betrachte ich ein Individuum im Spiegel und sehe eine (zwie-)gespaltene Persönlichkeit. Mich. Eine Frau des 21. Jahrhunderts, die versucht Worte wie «Gleichstellung» oder «Gender-Gap» rational zu betrachten und dennoch nicht dazu in der Lage ist, bei diesen Themen jegliche Emotionalität aussen vor zu lassen.

Ich werfe einen Blick zurück: 14. Juni 1991, 1. Schweizer Frauenstreiktag. Kaum den Kinderschuhen entwachsen, verbrachte ich damals den Tag im Klassenlager. Es war die Zeit, in der wir Jugendlichen erst entdeckten, dass es da noch ein anderes «Gender» gab. Von «Gap» nicht mal der Ansatz einer Spur. Im Gegenteil: Flüggewerden und sich frei machen von Konventionen war angesagt. Das Geschlecht spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Auf Geheiss des Lehrers bereiteten uns die Buben das Frühstück zu. Wir Mädchen fanden es toll. Die damalige Sichtweise von Gleichstellung bedeutete also, dass sich auch Mann mal hinter den Herd stellte. Hinterfragt haben wir Mädchen die Aktion nicht. Feministische Gedanken in weiter Ferne. Sonniges Wetter, frohe Gemüter, Frauenstreiktag 1991 Ende.

Fast drei Dekaden später, längst den Kinderschuhen entwachsen und sichtlich gereift in Gedanken, Worten und Werken, betrachte ich den heutigen Tag mit anderen Augen. Im Wissen, dass mehrere Frauengenerationen vor mir echt Schwerstarbeit geleistet haben, ziehe ich vor ihnen den Hut. Unvorstellbar viel Schweiss und Tränen mussten geflossen sein, Schläge und Inhaftierung stoisch hingenommen, nur um einigermassen angehört zu werden und sich frei äussern zu dürfen. Es war nicht nur ein Weg, den sie gingen, sondern darf als Leidensweg bezeichnet werden. Sie führten einen Krieg. Doch Krieg bedeutet Verluste, bedeutet gespaltene Lager und Schützengräben, aufgeteilt in Gewinner und Verlierer. Nichtsdestotrotz: diese Frauen waren es, die Meinesgleichen den heutigen Tag ermöglichen ohne strafrechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Die Feministinnen der ersten Stunde verhalfen uns zu Meinungsfreiheit (und wir reden unbestritten gerne), das Recht auf Bildung, das Recht auf Wahlen, das Recht auf Selbstbestimmung bei Fragen wie Schwangerschaftsabbruch, Geburtenkontrolle und Heirat und so vielem mehr. Mögen diese Themen auch verstaubt sein, sie sind die Grundmauern, auf die der heutige Feminismus in der Schweiz aufgebaut ist und die bisweilen grobe Risse aufweisen.

Nun, in den letzten 28 Jahren hat sich in den Augen der Frauen in der Causa Gleichstellung trotz Bemühungen und verzeichnenden Erfolgen zu wenig getan. Obwohl bekannt ist, dass das weibliche Geschlecht sowohl bei der Schul- als auch bei der Ausbildung erfolgreicher ist als das männliche und die Frauenquote bei der Anzahl Doktorate über deren der Männer liegt, fehlen weibliche Personen an der Spitze. Ehrlicherweise muss man sich jedoch fragen, weshalb dieser Anschluss noch nicht oder nicht zufriedenstellend stattgefunden hat.
Rein nüchtern und realistisch betrachtet, mangelt es uns Frauen an zwei wichtigen Persönlichkeitsmerkmalen. Gesundes, starkes und bodenständiges Selbstvertrauen und das Weglassen von Selbstzweifeln. Wie oft beobachte ich, dass Männer viel selbstbewusster auftreten und sich die Frauen in dieser Hinsicht zurücknehmen und sich zunehmend verunsichert fühlen. Wie Frauen bei jeder sich ergebenden Gelegenheit an sich selbst und ihrem Tun zweifeln. Wie unglaublich oft sie ihren Wert mindern, nur um nicht aufzufallen. Für eine Karriere keine sonderlich qualitativ herausstechenden Eigenschaften.
Natürlich gibt es Beispiele davon, bei denen Frauen in Kaderpositionen von Männern ausgebootet wurden. Sie werden allzu gerne als Aufhänger benutzt. Und ich weiss, ich lehne mich weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass wir zuweilen den Männern unrecht tun, wenn wir sie dafür verantwortlich machen, gar dafür bestrafen, dass Wege an die Spitze ihretwegen den Frauen verwehrt bleiben. In der Tat verwehren wir sie uns oftmals selbst. Mangelndes Selbstbewusstsein und abgrundtiefe Selbstzweifel sind nur zwei der Gründe dafür. Hinzu kommt – und das ist wirklich perfide – dass es die Frauen sind, die andere Frauen be- und verurteilen, richtiggehend katalogisieren: zack – in die «Karrieregeiletussi»-Schublade gesteckt. Zack – ins «ach, du bist Vollzeit-Mami, ist das nicht unglaublich langweilig»-Fach verstaut. Zack – in den «du hast ja keine Kinder und somit keine Ahnung»-Schrank versorgt. Aus eigener Erfahrung darf ich sagen, dass Männer meine Entscheidungen – egal ob beruflich oder privat – nie in Frage gestellt, im Gegenteil, mich vielmehr dazu ermutigt haben, an meinen Zielen festzuhalten und an mich zu glauben, während es an kritischen, misstrauischen, neidischen und missmutigen Äusserungen von Frauen nie fehlte. Selbst in jüngster Vergangenheit verunsicherten mich die wertmindernden Aussagen einer Frau zu meinem Textschaffen dermassen, dass ich folgend tagelang blockiert war und mein ganzes Tun in Frage stellte.

Doch aus Fehlern können wir lernen. Noch viel wichtiger: Die Einflüsse der Gesellschaft und vor allem diejenigen der Familie prägen eine Kindheit. Mit Erschrecken stelle ich jedoch immer wieder fest, wie unglaublich überbehütet Mädchen heutzutage aufwachsen und wie rasch sie sich an die geschlechterspezifische Rolle anpassen, die ihnen selbst von Müttern, die es besser wissen müssten – ob bewusst oder unbewusst – schon im Kleinkindesalter aufgedrückt wird. Mädchen lernen auch heute noch früh, anderen zu gefallen, auf welche Weise auch immer. In einer aufgeklärten Zeit, in der dieses Thema längst ad acta gehören sollte, eine ziemlich ernüchternde Erkenntnis. Fakt ist: solange geschlechtstypische Verhaltensformen vermittelt und Stereotypen heranerzogen werden, solange benötigt es Gleichstellungsdebatten, Frauenstreiktage und Diskussionen über Lohngleichheit.

Ich hatte die Wahl. Raus an den Frauenstreiktag oder raus an die frische Luft und diesen Text schreiben. Die Leserschaft ist wohl geneigt zu fragen, weshalb sich die Schreiberin nicht zu den anderen Frauen gesellt und mit wehenden Fahnen durch die Stadt marschiert? Ehrlich währt am Längsten: An hochstilisiertem Aktionismus konnte ich noch nie und kann ich nichts Gutes abgewinnen. Auch wenn ich die Aktion in einem gewissen Ausmass sinnvoll und die Diskussion nötig finde, kann ich mich nicht voll und ganz damit identifizieren, nicht mit ganzem Herzen dabei sein. Mit Bestimmtheit wird es Genossinnen geben, die mich für mein Verhalten oder meinen Pragmatismus verunglimpfen, das ist mir bewusst. Ebenso wie mir bewusst ist, dass heute etliche Frauen mittrotten, weil es einfach «en vouge» ist, an Aktionen teilzunehmen und die Stimme zu erheben. Unter ihnen wird es auch solche geben (und die gibt es immer), die gedankenlos Parolen nachplappern. Gegebenenfalls nehmen auch Frauen aus reinem Schuldbewusstsein teil. Man will ja sein Geschlecht irgendwie vertreten und Solidarität zeigen. Doch wo bleibt da das Recht auf Selbstbestimmung und freie Meinungsäusserung, wenn aktionsbewusste Frauen andere Frauen auf irgendwelchen öffentlichen Socialmedia-Kanälen denunzieren, beleidigen und anprangern unsolidarisch zu sein, wenn sie sich nicht «hinter die Sache» stellen würden? Kann man da nicht einfach seine Klappe halten und seine Sache denken? Will ich Teil einer solch radikal angehauchten Gruppe sein, die sich ungerecht behandelt fühlt aber Andersdenkende ebenso ungerecht behandelt? Nein, will ich nicht. Demonstration ja, aber für die Sache, nicht gegen Andersdenkende egal welchen Geschlechts. Auch sie haben das Recht auf Meinungsfreiheit. Es lohnt, für Dinge einzustehen, die einem wichtig sind, an die man glaubt. Wenn man es jedoch tut, tut man es mit Anstand und Professionalität.

Im Sinne unserer Ahninnen, die so viel für uns getan haben: Lassen wir das Thema Gleichstellung in unseren Alltag einfliessen ohne gleich Anklage gegen Unbekannt zu erheben, lassen wir jeden Tag ein bisschen mehr Selbstbewusstsein in unserem Tun zu und stellen uns nicht permanent unter den Scheffel, lassen wir, wie die Geschichte zeigt, unsere Kinder wissen, dass es manchmal kleine Schritte und mehrere Jahre braucht, um Meilensteine zu erreichen, lassen wir sie wissen, dass Durchhaltewille sich lohnt und man dafür nicht über Leichen gehen oder respektlos sein muss, lassen wir die Mädchen wissen, dass es nicht existentiell ist, sich immer und überall anzupassen, allen zu gefallen und sich selbst dabei zu verlieren und nichtig zu fühlen.

«Gap» bedeutet Lücke oder Kluft. «Gender-Gap» heisst demnach die Kluft zwischen den Geschlechtern. Was ich mir für die Zukunft als Frau wünsche und hiermit auch an mein eigenes Geschlecht appelliere: Die Diskussion soll nicht als Krieg mit Gewinnern und Verlierern betrachtet werden. Kluften überwindet man mit Brücken. Mir fehlt das WIR im Kontext. Aus einem ICH ein WIR zu machen ist ein hartes Stück Arbeit. Und mit WIR meine ich nicht wir Frauen gegen euch Männer. WIR, die Gesellschaft. Frau und Mann. Ein WIR ist zusammen. Und zusammen ist man weniger allein.

Ein Leben mit Lücken

Vor etwas mehr als einem halben Jahr trennte sich das Froilein von seinem Beruf. Ein Beruf, der ihm nach 25 Jahren Tätigkeit in Fleisch und Blut übergegangen war, der ihm wie ein guter Freund auch über die schlechteren Tage hinweg geholfen hatte. Ein Beruf, dem es ehrlich zugetan war. Doch: zu ausgetreten und routiniert schienen dem Froilein die Wege des Alltags im Gesundheitswesen, zu starr erwiesen sich die Zäune, die ebendiese Wege begrenzten und es somit einschränkten, hin und wieder lausmädchenhaft auszubrechen, neue Ideen zu verwirklichen. An der kurzen Leine gehalten und nach Lust und Laune ausgeführt zu werden, erfüllte das Froilein weder mit Freude noch mit Motivation. Der Wunsch, unbekannte Pfade erkunden zu dürfen, war inniger, als der Wunsch, an alten Normen festzuhalten.
So stand es da. Mit leeren Händen – und was noch viel schlimmer war – mit schwerem Herzen. In einem Sommer voller Sonne tat sich für das Froilein plötzlich ein finsteres Nichts auf, in welches es zu fallen drohte. Plötzlich kreisten seine Gedanken um Fragen wie «kann ich mir das leisten?», «habe ich versagt?» und «weshalb habe ich versagt?», «was ist der Plan?» und «wie zum Teufel werde ich diese Lücke in meinem Lebenslauf erklären können?» Sie waren es, welche seine Sicht verdunkelten und die hellen Tage trübten.

Es hätte verreisen, all die unangenehmen Gedanken hinter sich lassen können. Doch mit Gewissheit wären sie noch da gewesen. Geduldig auf seine Rückkehr wartend. Das Froilein blieb und stellte sich. Seinen Fragen, seinen Sorgen und vor allem sich selbst.
Die Tage und Nächte plätscherten dahin. Die profanen Dinge des Alltags lenkten das Froilein ab, lenkten es in eine andere Richtung. Auf einmal war sie da: Zeit. Zeit für andere Dinge und andere Aufgaben. Ein Garten wollte bestellt, das Gemüse und Obst geerntet und verarbeitet werden. Längst fällige Renovierungsarbeiten am Haus oder eine immer wieder aufgeschobene Wanderung wurden in Angriff genommen. Ein verletzter Streuner, dem Zuwendung gebührte, erhielt des Froileins Aufmerksamkeit und konnte in aller Ruhe genesen. Es ergaben sich vermehrt Besuche bei Eltern und Freunden, Platz für Kaffee und Gespräche.

Und so kam es, dass das Froilein die unbeliebte Lücke im Lebenslauf mit glücklichen Momenten aus- und auffüllte.

Neulich beim Einsortieren:

Als Studienkoordinatorin zeige ich mich verantwortlich für das Einholen der Lebensläufe der Projektmitwirkenden. Auch meinen eigenen – ebenfalls aktualisierten Lebenslauf – heftete ich unter dem Register «Curricula Vitae» ab. In jenem Moment des Abheftens, erinnerte ich mich an meine Angst, die nicht von mir abgelassen hatte, sich an mich klammerte und mich meist unerwartet aus dem Hinterhalt angriff: «Wie zum Teufel erkläre ich die Lücke in meinem Lebenslauf?»

«Curriculum» bedeutet Lehrplan. Ein «Curriculum Vitae» darf demnach als Lehrplan des Lebens bezeichnet werden. Doch was sagt der Lehrplan des Lebens über den Menschen der dahinter steckt aus? Mit wie viel Ehrgeiz er seine Ziele verfolgte, vielleicht? Zeichnet der Ausbildungsgrad automatisch den Wissenstand einer Person ab? Darf ein häufiger Wechsel der Arbeitsstelle als innovativ oder als bedenklich bezeichnet werden? Wie verhält es sich mit der Interpretation von Lücken? Gilt man automatisch als Freigeist? Faulpelz? Oder beides zu gleichen Teilen?

In der Literatur sind Leerstellen gewollt. Sie regen zum Mit- und Nachdenken an. Sie sind es, die den Leser sowohl irritieren als auch fördern. Im echten Leben, fern der Dichtkunst, zeigt die Realität, dass wir nicht mit Lücken umgehen können. Ein «Curriculum Vitae» mit Lücken wird stets weniger begünstigt wahrgenommen als ein Lebenslauf, der fein säuberlich auf 40 oder mehr Jahre chronologisch zurück verfolgbar ist. Allem Anschein vermittelt ein lückenloser Lebenslauf Sicherheit. Zumindest trügerische Gewissheit, dass die Person nichts Verrücktes oder Abwegiges angestellt hat und mit grosser Wahrscheinlichkeit auch nicht noch tun wird. Doch trügt der Schein nicht manchmal?

Kein Mensch schreibt in seinen Lebenslauf, dass da eine Lücke ist, weil er sein Leben in Ordnung bringen wollte, er eine Entziehungskur gemacht hat. Niemand schreibt, ich habe meinen Mann, meine Schwester oder gar mein eigenes Kind zu Grabe getragen und konnte für eine Weile unmöglich meinen Arbeitspflichten nachkommen. Wer erwähnt schon im Lebenslauf, dass Krebs dazwischenkam? Und in welchem steht geschrieben, dass man die demenzkranke und pflegebedürftige Mutter bis zu deren Tod begleitet hat und aus gutem Grund die Arbeit auf der Strecke blieb? Wer hält es für erwähnenswert, seinem Bruder auf dem Hof ausgeholfen zu haben, weil dieser sich plötzlich in der Situation wiedergefunden hat, sich neben der Arbeit auf dem Hof nun auch noch um seine drei Halbwaisen kümmern zu müssen?

Nun gut, Lücken können beschönigt oder auch geleugnet werden. Eine Reise zu den Urvölkern Indiens mit anschliessender Läuterung in einem nepalesischen Kloster scheint nicht nur in den Augen einiger Arbeitgeber sondern auch in den Augen unserer Gesellschaft weniger heftig, zumindest akzeptabler, zu sein, als sich zum Beispiel nach einer Chemotherapie ein Jahr Auszeit zu nehmen. Das eine kann man verstehen, gar nachvollziehen, über die andere Lücke will nicht gesprochen werden. Zu schwer die Last, die damit verbunden ist.

Besteht sie deshalb? Diese bedrückende Angst vor der Lücke im Lebenslauf? Dass zwei Seiten Papier eine ungewollte Wertigkeit widerspiegeln? Ist man automatisch auf dem Arbeitsmarkt und in den Augen einiger Mitbürger weniger wert, wenn eine Leerstelle die Chronologie unterbricht? Und ist man noch weniger wert, wenn der Inhalt der Lücke sich nicht einordnen lässt? Ist dies ein subjektives Empfinden oder bewegen wir uns tatsächlich in einem verqueren Wertesystem?
Fakt ist: niemand – auch nicht der beste und empathischste Arbeitgeber – kann zwischen den Zeilen lesen oder herausspüren, welche Person sich dahinter versteckt. Ohne persönliches Gespräch, ohne das Herantasten an einen anderen Menschen, ohne das konkrete Hinhören hat auch niemand das Recht dazu, ein Urteil zu fällen. Einen Grund sich für eine Lücke zu schämen oder sich deswegen zu grämen, den gibt es nicht. Selbst die grösste Lücke erzählt eine Geschichte.

Zeigt der Autor Mut zur Leerstelle, wird er gelobt. Er verbessert und verfeinert durch das Weglassen von Inhalt den Text. Ist dies nicht Ansporn genug? Jeder darf zu seinen Lücken stehen, egal ob sie in einem Lebenslauf, im Gedächtnis, im Herzen oder sonst wo festgehalten sind. Bisweilen verfeinern sie unser Leben. Mit Gewissheit gewinnt deswegen ein jedes an Tiefe.

Auf ein Neues

Eine lange Zeit blieb es um das Froilein still. Nicht etwa, weil das Froilein schweigen musste, sondern weil es schweigen wollte. Für das Froilein war es ein Jahr voller Abschiede und zugleich eines voller Neuanfänge. Emotionen kamen und gingen. Ebenso Ideen, die keimten und wieder verworfen wurden. Rastlosigkeit wurde durch Musse ersetzt und Spontaneität nahm den Platz von Planung ein.
So plätscherten die Tage des Froileins dahin, keiner glich dem anderen, doch jeder war dazu da, das Froilein aufzufangen, es wissen zu lassen, dass es jenseits aller Geschäftigkeit auch eine Zeit gibt – eine, die es für sich selbst benötigt und die es sich ohne zu fragen nehmen darf.
Mit diesen Worten wünsche ich der Leserschaft frohe Festtage und einen guten Start im 2019 und bedanke mich für die Treue und die Geduld. Die Stille ist es, die es uns ermöglicht, Worte zu finden, die in uns schlummern. Geben wir ihnen die Chance, gehört zu werden. Auch im neuen Jahr.

Im Jahreskreis

Einmal noch
spielt der Abschied mir
eine Schwalbe zu
umhüllt von nimmermüdem Schweigen
schlummert er zerbrechlich
scheint verloren
bis die Hoffnung keimend
ihn an der Hand nimmt
auf ein Neues
Blüten treibt

– katja hrup 2018 –