Aus aktuellem Anlass

In Gedanken bei den Menschen in der Ukraine. In Gedanken bei all jenen, die ungewollt in unnötige Kriege mit hineingezogen werden. In Gedanken, bei den Müttern, die ihre Söhne ziehen lassen müssen und sie nie mehr sehen werden. In Gedanken bei allen, deren Leben in Bahnen gelenkt werden, die man keinem wünscht.
Einst sagte mir mal jemand: “jeder ist seines Lebensweges eigener Chauffeur”. Das mag wohl stimmen. Dennoch sollten wir uns erinnern: nicht jeder hat das Privileg, sich die Wege, auf denen er unterwegs ist, selbst auszusuchen.

Abseits des Wegs 

Sie sitzt am Straßenrand. Staub wirbelt auf. In ihren Armen ein Bündel zerknautschter Wäsche. Zwischen den Lumpen ein Stück Fleisch. Es atmet nicht mehr, leblos das Ärmchen.

Sie wippt vor und zurück, zurück und vor. Im immer wiederkehrenden Rhythmus. Sie will nicht hasten, ein bisschen verweilen. Staub wirbelt auf und trocknet ihre Tränen, rascher als es ihr lieb ist.
Ein Konvoi zieht vorbei, dann ein zweiter. Panzer stampfen Rautenmuster in den Kies. Auf den Ladeflächen Gewehre und Patronen, rein und unverbraucht. Noch haben sie keine Leiber durchbohrt und keine Knochen zersplittert. Noch haben sie kein Leben zerstört. Noch könnte man sich von dem Unheil abwenden, das hinter dieser neu gezogenen Grenze tobt und wie ein Orkan über ihre Heimat hinweg fegt. Doch keiner tut’s. Die einen rennen davon, die anderen direkt hinein. Als wäre es vorbestimmt.
Sie streichelt das schmale Bündel. Ihr Kind. Wie gerne wäre sie mit ihm die ersten Schritte gegangen, hätte sein Händchen zuerst noch in der ihren gehalten, warm und sicher um es eines Tages, wenn die Zeit reif dazu gewesen wäre, loszulassen. Wie gerne hätte sie ihr Mädchen zum Lächeln gebracht. Nie wäre sie von diesem Anblick satt geworden. Voller Freude hätte sie ihrem Kind die kleinen Wunder dieser Welt gezeigt. Ihrer Welt, so wie sie sie kannte, gut und schön, voller Liebe und Musik. Doch die Musik um sie herum war seit einer gefühlten Ewigkeit verstummt. Mächtige Worte aus dem Äther hatten eine neue Zeit angekündigt. Das Geratter von Maschinengewehren ist an die Stelle der lieblichen Melodien getreten, nimmt deren Platz ein. Füllt die Tage aus. Ebenso die Nächte.
«Liebes, wir können sie nicht mitnehmen», sagt er und zieht ihr die Kleine sanft aus den Armen, die sich daran klammern, als gäbe es sonst keinen Halt. Er küsst das Kind auf die kalte Stirn, bettet es in den Straßengraben auf Laub vom Vorjahr und deckt es mit Birkenästen zu. Sie kann sich nicht rühren, beobachtet ihn, wie er sich verabschiedet. Und bewundert seine Stärke.
Nie hätte sie gedacht, dass ihre Milch versiegen könnte, dass sie als Mutter versagen würde. Sie hätte gerne getauscht, in diesem Moment sich mit dem Birkenlaub bedeckt, dem Himmel noch einmal gute Nacht gesagt und sich für immer schlafen gelegt. Gerne hätte sie ihrem Kind eine angenehmere Reise ermöglicht. Wie unglaublich unnatürlich ihr das alles vorkam. Selber am Leben zu sein und das Kind alleine zurückzulassen. Das Atmen fällt ihr schwer. Sie legt die Hände über die Augen, will nichts mehr sehen, muss dieses Bild vergessen. Doch es reißt ihr ein Loch in die Brust. Brennt, als hätte eine Kugel sie durchschlagen.
«Sie wird frieren. Unser Mädchen wird in diesen klaren Nächten frieren», sagt sie und erwacht aus ihrer inneren Starre. Sie nimmt ein Birkenästchen und legt es zu den anderen über den kleinen ausgehungerten Körper.

Er schweigt. Sie schweigt.

«Lass uns gehen. Das Monster kommt schon näher.» Er zieht sie zu sich und schenkt ihr eine kurze Umarmung. Er streicht ihr die Haare aus dem Gesicht und wischt liebevoll mit dem Zipfel seines Ärmels den eingetrockneten Staub von ihren Wangen. Wie gerne würde er tauschen, sein Leben für das des Kindes hingeben, das ihnen genommen wurde, weil hinter den Grenzen das Grauen wütet und sie ungefragt diesen beschwerlichen Weg auf sich nehmen mussten. Lieber hätte er seine Frau lächeln sehen, wie damals am Tage ihrer Hochzeit und bei der Geburt der Kleinen. Er würde tauschen, wenn er könnte. Doch er kann nicht. Und er hört sein Herz in zwei Stücke brechen.
Niemand sieht den Abschied auf der Landstraße. Keiner hört das leise Schluchzen zweier Menschen. Der Wind sucht sich seinen Weg durch die Äste und der Wald summt ein ganz eigenes Lied. Der Tag löst sich auf und die Nacht übernimmt die Schicht. Raketenfeuer erhellen den Himmel, setzen Zeichen in die Luft. Sie beide laufen, drehen sich nicht um. Hasten, hetzen, rennen so lange ihre Füße sie noch tragen mögen. Den Konvois entgegen, die ins Verderben fahren. Sie laufen weg von der Katastrophe, die immer näher aufrückt. Hand in Hand. Nur noch in Lumpen gekleidet. Ein Bündel weniger im Gepäck.
Das Böse ist da und macht vor niemandem halt, denkt er und betrachtet seine Frau von der Seite. Nicht vor ihrem Häuschen, das etwas abseits des Dorfes nahe dem Waldrand steht und frisch gekalkt ist. Auch nicht vor dem Garten, der getränkt mit ihrem Schweiß, die Früchte ihrer harten Arbeit trägt. Zerstört alles Vertraute, als wär’s nie gewesen. Lenkt Geschichten in fremde Bahnen, löscht sie unwiderruflich aus. So dachten sie beide noch vor einer Weile, sie könnten standhalten, sich auflehnen, ihre Liebe und ihre Trauer seien stark genug um gegen das Elend anzukommen. Doch es walzt über alles hinweg. Überrollt die Lebenden und die Toten.
Armeefahrzeuge ziehen vorbei. So viele, dass man sie nicht mehr zählen mag. Sie sieht auf den Ladeflächen zukünftige Mörder, junge Männer, kaum Flaum ums Kinn, meist noch Kinder. Ihre Gesichtszüge eingefroren zu Masken von Kämpfern. Wie man es von ihnen erwartet. Sie denken nicht nach, befolgen Befehle. Dürften sie sprechen, würden sie ihr zujubeln und rufen: Keine Sorge Mütterchen, du wirst sehen, wir werden es richten. Doch sie schweigen. Und so ziehen sie dahin, ins Verderben, dorthin wo es erbarmungslos zu und her geht. Jeder auf sich alleine gestellt. Und sie weiss: Ihre Mütter werden sie beweinen, all jene die auf dem Feld und in den Schützengräben ihr Leben lassen müssen. Sie werden um ihre Kinder weinen, wie sie gerade ihres beklagt. Davon wissen sie noch nichts. Weder die jungen Männer noch deren Mütter. Noch sind sie stolz. Sie sind Soldaten und halten die Gewehre im Anschlag. Sind bereit zu töten, vielleicht auch bereit für ihr Vaterland zu sterben. Durch Patronen so jungfräulich, wie sie selbst.

Staub wirbelt auf. Die Landstraße revoltiert noch. Er ist da. Krieg.

Soldaten an der Front

Seit zwei Wochen herrscht Ausnahmezustand an meinem Arbeitsort. Die Lage ist angespannt. Überall wird aufgerüstet. So als wäre Krieg. Verwirrt oder verstört beobachte ich die Situation ennet der Grenze. Dort wo Touristen in den Sommermonaten an den Stränden flanieren und Gelati in sich reinschaufeln, ist von «dolce far niente» momentan keine Rede. Zumindest nicht für das Personal, das einer Gesundheitseinrichtung angehört. Was zum Teufel passiert hier gerade, frage ich mich? Unser Alltag – und wenn ich von uns oder wir spreche, ist vom im Gesundheitswesen angestellten Personal die Rede – steht derzeit Kopf. Neue Abläufe werden eingeübt, Arbeiten verlagert. Umorientiert. Alles gleich und doch alles irgendwie neu. Im Zweistundentakt neue Anweisungen, neue Regeln, geänderte Standards. Es gilt die Sache anzupacken. Unausweichlich. Das wird jetzt von uns erwartet. Ebenso stellen wir diese Erwartung an uns selbst. So sind wir. Welcher Arbeitsaufwand uns in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten erwarten wird, ist uns auch bewusst. Hinsichtlich dieser Tatsache ist mir der pragmatische Humor, den sich Pflegepersonen im Laufe ihres Berufslebens zu eigen machen, um einigermassen im Arbeitsalltag zu überleben, irgendwo zwischen Dauerhändewaschen und stillem Abwarten auf das Eintrudeln von Schutzbekleidung abhandengekommen. Das Lachen, welches ich üblicherweise auch gerne mit Patienten und Kolleginnen teile, ist mir vergangen. Vielen meiner Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen wird es wohl ähnlich ergehen.

Jetzt stehen wir also wie Soldaten an der Front. Es wird applaudiert. Seit Neustem scheint mein Beruf «systemrelevant» zu sein. Eine Tatsache, die mir bis anhin nicht bewusst war. Ein bisschen heuchlerisch finde ich das schon. Gut gemeint, ist nicht zwingend gut gemacht. An die Leute ausserhalb der Sperrzone Spital: die Pflegeversorgung durch Pflegepersonal läuft seit Jahren am Limit. Der Pflegenotstand ist kein Gerücht, sondern bittere Realität. Selbst dem letzten Einwohner im mittleren Schattengibeleggtäli muss diese Tatsache nicht gänzlich unbekannt vorkommen. Wer in die diversen Einrichtungen Einblick erhält, sieht, was Sache ist. Wer anderes behauptet, ist entweder blind oder lügt. Zur Erinnerung: Stellenpläne werden eng geschnürt, Personal und verteilte Aufgaben werden zu Gunsten von Kosteneinsparung (weg)rationalisiert. Der Ersatz aus dem Ausland deckt bei Weitem die fehlenden Hände nicht ab. Zu wenige wollen den Beruf noch erlernen, da bis anhin politisch immer noch keine Vorstösse unternommen wurden, um die Attraktivität des Berufes zu steigern. Zu viele wenden sich vom Beruf ab. Weil sie nicht mehr aushalten können oder aushalten wollen. Wenn wir es wagen uns zu äussern, nennt man uns asozial und unsolidarisch, sagen wir nichts, sind wir selbst schuld an der «Misere Pflegenotstand». Sind wir mutig genug, zu demonstrieren, für unser Recht einzustehen, gar dafür zu kämpfen, geht ein Raunen, wenn nicht gar ein Aufschrei durch die Bevölkerung, dass sich das für so Leute, wie wir es sind (was sind wir denn für Leute?) einfach nicht gehöre.

Also, frage ich frech, wer von euch wird uns noch Beifall zusichern, wenn diese Krise überstanden ist? Dürfen wir auf eure grosszügige Unterstützung zählen, wenn wir alsbald darum bitten werden? Aus der Erfahrung der letzten Jahre wage ich jedoch zu sagen: rasch wird in Vergessenheit geraten, was in dieser Ausnahmesituation geleistet wurde. Die Normalität in eurer Welt da draussen, die sich gänzlich von der Normalität im Gesundheitswesen unterscheidet, wird ihren Beitrag dazu leisten.
Ich höre jetzt schon die ersten Stimmen, die sich erheben, weil sie zu wenig schnell einen Vorschlag für den ausgesetzten Arzttermin erhalten; ich höre jetzt schon die ersten Stimmen, die sich erheben, wenn sie eine halbe Stunde oder vielleicht auch mal länger (Leute, es geht nicht immer um Leben oder Tod!) auf dem Notfall warten müssen; ich höre jetzt schon die ersten Stimmen, die sich erheben, was für ein unkompetenter Haufen wir doch sind und eigentlich gar nichts können. Ich höre jetzt schon die ersten Stimmen, die ernsthaft mit dem Anwalt drohen, wenn sie sich unverstanden und ungerecht behandelt fühlen.

Während euer Leben da draussen in die Normalität übergehen wird, während an der italienischen Riviera die Touristen wieder Gelati in sich reinschaufeln werden, liebe Leute, werden wir an der Front die zerschlagenen Scherben, die diese Krise zweifelsohne hinterlassen wird, zusammenfegen. Vielleicht lässt sich etwas kitten. Ganz sicher nicht alles. An Fronten werden Opfer gebracht. Vielleicht werden wir uns gegenseitig auf die Schultern klopfen und uns darüber freuen, dass wir eine Brücke über etwas scheinbar Unüberbrückbares schlagen konnten. Vielleicht wird die eine oder der andere sagen «das war’s endgültig» und den Kittel an den Nagel hängen wollen und vielleicht wird der- oder diejenige durch eine helfende Hand aus den eigenen Reihen davon abgehalten. Man fühlt sich dann nicht so allein, wenn nach der Krise die Leere kommt. Diese Gefühle sind uns Pflegenden nicht neu. Gut möglich, dass wir auch die einzigen sind, die uns gegenseitig wirklich verstehen und nachvollziehen können, was es bedeutet, Entscheidungen treffen zu müssen, die lebensverändernd sein können.

Ihr haltet euch für solidarisch, wenn ihr jetzt Nachbarschaftshilfe leistet? Das ist gut so. Doch ich sage euch, Solidarität ist mehr als nur ein Wort. Es muss zur Selbstverständlichkeit werden, in euer Blut übergehen. Füreinander einstehen, einander helfen. Ihr könnt die Frontsoldaten des täglichen Lebens werden. Und vielleicht erkennt ihr in eurem Tun, was Pflegende jeden Tag für andere machen. Wie gross ihr Anliegen ist, die Pflegeversorgung zukünftig in einem qualitativ anstrebenswerten Umfang leisten zu können. Es geht uns alle an.
Denkt an meine Worte. Denn es wird der Tag kommen, da werden die Frontsoldaten von heute an eure Solidarität appellieren. Da wird Applaus nicht mehr genügen. Es wird der Tag kommen, an dem ihr die Stimme für die Frontsoldaten von heute sein werdet. Und an diesem Tag zählen wir auf euch.

Einfach einfach

Foto: Langis. Katja Hrup, 2019

Auf dem Nachhauseweg

Eisige Nacht.
Aber der Mann auf dem Gehsteig,
den Kopf im Nacken,
rührt sich nicht.
Sein Blick steckt fest
in einer Sternverwehung.

Rainer Malkowski (1939-2003)

Liebe Leserschaft

Das Froilein bekennt sich als grosser Fan von Rainer Malkowski. Er war ein Künstler der Verdichtung, der Lyriker, der der Einfachheit und der Lakonik etwas federleichtes verlieh und dennoch: wer seine Gedichte liest, merkt rasch, dass in der Einfachheit auch das Gewicht der Welt liegen kann.

Liebe Leserschaft, das Froilein wünscht Ihnen nicht alle möglichen Gaben. Das Froilein wünscht Ihnen vor allem viele Sternverwehungsmomente, die Sie berühren. Es wünscht Ihnen unzählige Blicke in den weiten Himmel. Mögen Sie dabei immer und immer wieder Ihre Träume und Ihre Gedanken auf eine Reise schicken, im Wissen, dass diese irgendwann und irgendwo ankommen werden.

Herzlichst, Ihre Schreiberin

Lebewohl, mein Ungewollter

Sie verfluchen dich. Kommst du des Weges, schlagen sie ihre Mantelkragen hoch und laufen mit gesenkten Köpfen, eiligen Schritten und verdrossen vor dir davon. Du bist ungewollt. Hässlichkeit wird dir nachgesagt. Ungefragt trägst du diese Bürde.

In dich wurde ich hineingeboren. Du hattest deine graue Decke über die Felder und Wiesen gelegt und den See zum Schweigen gebracht an jenem Donnerstagmorgen, erzählt man sich. In dich wurde ich wider deine Natur lautstark hineingeboren, dennoch hast du mich mit offenen Armen empfangen, dich schützend um mich gelegt, als wäre ich dein eigenes Kind. Trotz deiner Kälte und Nässe, strahltest du für mich Wärme aus. Selbst die vielen Jahresringe in meinem Leben haben nichts an meiner Zuneigung zu dir geändert.

In ihren Augen bist du die wahr gewordene Dystopie, launisch, die Zerstörung alles Schönen, der Tod im stürmischen Gewand, der keine Sense dazu braucht um uns in die Knie zu zwingen und zu sagen: „Haltet ein! Seid still! Besinnet euch!“ Wer dich verleugnet, den brichst du. Nicht weil du es tun willst, sondern weil du es tun musst. Mein Geliebter, ich liebe dich, weil du anders bist. Seltsamer, mysteriöser. Undurchdringlich, undurchschaubar, ungeliebt. Ich erkenne dich. Ich verstehe dich. Du tust, was du tun musst. Bist wahrhaftig.

Doch morgen gehst du wieder fort. Ich höre, wie sie aufatmen, da draussen, wenn du gegangen bist. Durch den Advent wirst du ersetzt, die Zeit der wärmenden Lichter, der Liebe und des Friedens. Für mich fühlt es sich falsch an. Ungerecht dir gegenüber. Als sei alles abwegig was du tust und nur das kommende habe Richtigkeit. Diese Zeit des Friedens, mein Ungewollter, wird nie so aufrichtig sein, wie du es bist.

Lebewohl, mein Ungewollter. Vermissen werd’ ich dich, denn in dir darf ich schweigen, bis ich mich selber höre; darf ich still sein, bis ich mich selber verstehe; darf ich so stark fühlen, bis es wehtut. Du machst mich lebendig. Nie werde ich verstehen, weshalb sie dich verfluchen, die Augen vor deiner Schönheit verschliessen. Denn kein anderer zeigt uns wahrhaftiger, wie fehlbar und endlich wir sind, wie Gehen und Werden zusammengehören. Und dass du ungeachtet all der entgegengebrachten Abneigung, in deiner Tiefe etwas Unergründliches aufbewahrst, das irgendwann wieder Blüten treibt.

In dich wurde ich hineingeboren, geliebter November, und in dir will ich eines Tages sterben, im Wissen dass du Ende und Anfang zu gleichen Teilen bist.

Des Teufels Divis

Er besudelt, verunstaltet, zerstückelt in einem fort, was nicht zu zerstückeln gilt. Trennt ohne Scham, was zusammengehört. Verankert sich im Unterbewusstsein. Karzeriert, bevor er in einem ungeahnten Ausmass zu wuchern beginnt. Verbreitet sich wie ein Virus und selbst erfahrene Schreibende sind vor einer Ansteckung nicht gefeit. Zum Schluss die Tragödie: der Leselandschaft Tod. Ersetzt durch eine Strichlandschaft. Ein Schlachtfeld auf dem Papier. Ein Bild des Grauens.

Der Binde- oder Trennstrich, auch Divis genannt. Er ist des Teufels, liebe Schreibkräfte! Nichts gegen einen Strich – wenn er denn richtig gesetzt wird. Doch was mir in letzter Zeit selbst in namenhaften Zeitschriften aufgetischt wird, springt mir regelrecht ins Auge, sticht zu, rüttelt an meinen Seh- und diversen anderen Nerven. Deppenbindestrich über Deppenbindestrich. Kopfschütteln über Kopfschütteln.

Es ist und bleibt mir ein Rätsel, weshalb Schreibende und Korrektoren beider Geschlechter dazu neigen, Substantive, die jahrelang zusammenhängend geschrieben wurden, durch einen Bindestrich zu trennen? Weshalb wird aus Käsekuchen plötzlich Käse-Kuchen? Schmeckt er dadurch besser? Mehr nach Käse? Oder kuchiger? Schmeichelt ein Bier aus dem Zapf-Hahn an einem Mittwoch-Abend den Gaumen mehr als an einem stinknormalen Mittwochabend? Und was passiert wirklich in einem Bildungs-Institut, so frage ich mich?

Nicht die Tatsache, dass die Verwüstung durch Bindestriche den Lesefluss ruiniert, sondern wohl eher diejenige, dass die Schreibkraft sich gedankenlos und unwillkürlich irgendwelcher Interpunktionszeichen bedient und mit dieser Unart der Leserschaft keine zusammenhängenden Wörter mehr zutraut, stört mich. Liebe Schreibende: Satzzeichen haben eine Wirkung, sagen etwas aus. Sogar, wenn sie weggelassen werden.

Erinnern wir uns doch an Mary Poppins und ihr «supercalifragilistigexpialigetisch». Wohlwahr: Bereits im Primarschulalter ist ein Kind fähig, längere Wörter zu lesen, auszusprechen, gar zu singen ohne über Bindestriche zu stolpern. Oder rufen wir uns «s’Totemügerli» von Franz Hohler ins Gedächtnis; ein Elaborat sondergleichen. Vor zusammengesetzten Substantiven, ausdauernden Verben und Adjektiven nur so strotzend. Vom berndeutschen Dialekt mal diskret abgesehen, ist uns doch dieser Lese- und Sprachakt in der Regel gut gelungen, auch ohne jegliche Trennstriche, nicht wahr?

In  diesem Sinn: wer setzt, dann richtig. «Rien ne va plus» heisst nicht, beim Verfassen von Texten damit aufzuhören, sich mit Rechtschreibung zu beschäftigen. Bedeutet jedoch nach wie vor, seine Texte zu hinterfragen, zu prüfen und sie immer wieder von der Leserseite auszuleuchten. Man kann über Grammatik und Rechtschreibung pfuttern wie man will, doch so sind es die sauberen stilvollen Texte, die mich überzeugen, glaubhaft wirken. Alles schludrige geht mir gegen den Strich.

Übrigens: wer jetzt denkt, «na, dann lass ich die Deppen-Binde-Strich-Scheisse einfach weg», der sei gewarnt. Ein Leerzeichen zwischen Wörtern die zusammengehören, wird Deppenleerschlag genannt und macht die Sache nicht besser.

Tag der Frau, Frauenstreik 2019

Sie spaltet mich. Die Angelegenheit spaltet mich in gefühlte 27’000 Stücke. Stücke, die sich miteinander und gegeneinander verschwören, weil sie sich nicht einig sind. Am Frauenstreiktag 2019 betrachte ich ein Individuum im Spiegel und sehe eine (zwie-)gespaltene Persönlichkeit. Mich. Eine Frau des 21. Jahrhunderts, die versucht Worte wie «Gleichstellung» oder «Gender-Gap» rational zu betrachten und dennoch nicht dazu in der Lage ist, bei diesen Themen jegliche Emotionalität aussen vor zu lassen.

Ich werfe einen Blick zurück: 14. Juni 1991, 1. Schweizer Frauenstreiktag. Kaum den Kinderschuhen entwachsen, verbrachte ich damals den Tag im Klassenlager. Es war die Zeit, in der wir Jugendlichen erst entdeckten, dass es da noch ein anderes «Gender» gab. Von «Gap» nicht mal der Ansatz einer Spur. Im Gegenteil: Flüggewerden und sich frei machen von Konventionen war angesagt. Das Geschlecht spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Auf Geheiss des Lehrers bereiteten uns die Buben das Frühstück zu. Wir Mädchen fanden es toll. Die damalige Sichtweise von Gleichstellung bedeutete also, dass sich auch Mann mal hinter den Herd stellte. Hinterfragt haben wir Mädchen die Aktion nicht. Feministische Gedanken in weiter Ferne. Sonniges Wetter, frohe Gemüter, Frauenstreiktag 1991 Ende.

Fast drei Dekaden später, längst den Kinderschuhen entwachsen und sichtlich gereift in Gedanken, Worten und Werken, betrachte ich den heutigen Tag mit anderen Augen. Im Wissen, dass mehrere Frauengenerationen vor mir echt Schwerstarbeit geleistet haben, ziehe ich vor ihnen den Hut. Unvorstellbar viel Schweiss und Tränen mussten geflossen sein, Schläge und Inhaftierung stoisch hingenommen, nur um einigermassen angehört zu werden und sich frei äussern zu dürfen. Es war nicht nur ein Weg, den sie gingen, sondern darf als Leidensweg bezeichnet werden. Sie führten einen Krieg. Doch Krieg bedeutet Verluste, bedeutet gespaltene Lager und Schützengräben, aufgeteilt in Gewinner und Verlierer. Nichtsdestotrotz: diese Frauen waren es, die Meinesgleichen den heutigen Tag ermöglichen ohne strafrechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Die Feministinnen der ersten Stunde verhalfen uns zu Meinungsfreiheit (und wir reden unbestritten gerne), das Recht auf Bildung, das Recht auf Wahlen, das Recht auf Selbstbestimmung bei Fragen wie Schwangerschaftsabbruch, Geburtenkontrolle und Heirat und so vielem mehr. Mögen diese Themen auch verstaubt sein, sie sind die Grundmauern, auf die der heutige Feminismus in der Schweiz aufgebaut ist und die bisweilen grobe Risse aufweisen.

Nun, in den letzten 28 Jahren hat sich in den Augen der Frauen in der Causa Gleichstellung trotz Bemühungen und verzeichnenden Erfolgen zu wenig getan. Obwohl bekannt ist, dass das weibliche Geschlecht sowohl bei der Schul- als auch bei der Ausbildung erfolgreicher ist als das männliche und die Frauenquote bei der Anzahl Doktorate über deren der Männer liegt, fehlen weibliche Personen an der Spitze. Ehrlicherweise muss man sich jedoch fragen, weshalb dieser Anschluss noch nicht oder nicht zufriedenstellend stattgefunden hat.
Rein nüchtern und realistisch betrachtet, mangelt es uns Frauen an zwei wichtigen Persönlichkeitsmerkmalen. Gesundes, starkes und bodenständiges Selbstvertrauen und das Weglassen von Selbstzweifeln. Wie oft beobachte ich, dass Männer viel selbstbewusster auftreten und sich die Frauen in dieser Hinsicht zurücknehmen und sich zunehmend verunsichert fühlen. Wie Frauen bei jeder sich ergebenden Gelegenheit an sich selbst und ihrem Tun zweifeln. Wie unglaublich oft sie ihren Wert mindern, nur um nicht aufzufallen. Für eine Karriere keine sonderlich qualitativ herausstechenden Eigenschaften.
Natürlich gibt es Beispiele davon, bei denen Frauen in Kaderpositionen von Männern ausgebootet wurden. Sie werden allzu gerne als Aufhänger benutzt. Und ich weiss, ich lehne mich weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass wir zuweilen den Männern unrecht tun, wenn wir sie dafür verantwortlich machen, gar dafür bestrafen, dass Wege an die Spitze ihretwegen den Frauen verwehrt bleiben. In der Tat verwehren wir sie uns oftmals selbst. Mangelndes Selbstbewusstsein und abgrundtiefe Selbstzweifel sind nur zwei der Gründe dafür. Hinzu kommt – und das ist wirklich perfide – dass es die Frauen sind, die andere Frauen be- und verurteilen, richtiggehend katalogisieren: zack – in die «Karrieregeiletussi»-Schublade gesteckt. Zack – ins «ach, du bist Vollzeit-Mami, ist das nicht unglaublich langweilig»-Fach verstaut. Zack – in den «du hast ja keine Kinder und somit keine Ahnung»-Schrank versorgt. Aus eigener Erfahrung darf ich sagen, dass Männer meine Entscheidungen – egal ob beruflich oder privat – nie in Frage gestellt, im Gegenteil, mich vielmehr dazu ermutigt haben, an meinen Zielen festzuhalten und an mich zu glauben, während es an kritischen, misstrauischen, neidischen und missmutigen Äusserungen von Frauen nie fehlte. Selbst in jüngster Vergangenheit verunsicherten mich die wertmindernden Aussagen einer Frau zu meinem Textschaffen dermassen, dass ich folgend tagelang blockiert war und mein ganzes Tun in Frage stellte.

Doch aus Fehlern können wir lernen. Noch viel wichtiger: Die Einflüsse der Gesellschaft und vor allem diejenigen der Familie prägen eine Kindheit. Mit Erschrecken stelle ich jedoch immer wieder fest, wie unglaublich überbehütet Mädchen heutzutage aufwachsen und wie rasch sie sich an die geschlechterspezifische Rolle anpassen, die ihnen selbst von Müttern, die es besser wissen müssten – ob bewusst oder unbewusst – schon im Kleinkindesalter aufgedrückt wird. Mädchen lernen auch heute noch früh, anderen zu gefallen, auf welche Weise auch immer. In einer aufgeklärten Zeit, in der dieses Thema längst ad acta gehören sollte, eine ziemlich ernüchternde Erkenntnis. Fakt ist: solange geschlechtstypische Verhaltensformen vermittelt und Stereotypen heranerzogen werden, solange benötigt es Gleichstellungsdebatten, Frauenstreiktage und Diskussionen über Lohngleichheit.

Ich hatte die Wahl. Raus an den Frauenstreiktag oder raus an die frische Luft und diesen Text schreiben. Die Leserschaft ist wohl geneigt zu fragen, weshalb sich die Schreiberin nicht zu den anderen Frauen gesellt und mit wehenden Fahnen durch die Stadt marschiert? Ehrlich währt am Längsten: An hochstilisiertem Aktionismus konnte ich noch nie und kann ich nichts Gutes abgewinnen. Auch wenn ich die Aktion in einem gewissen Ausmass sinnvoll und die Diskussion nötig finde, kann ich mich nicht voll und ganz damit identifizieren, nicht mit ganzem Herzen dabei sein. Mit Bestimmtheit wird es Genossinnen geben, die mich für mein Verhalten oder meinen Pragmatismus verunglimpfen, das ist mir bewusst. Ebenso wie mir bewusst ist, dass heute etliche Frauen mittrotten, weil es einfach «en vouge» ist, an Aktionen teilzunehmen und die Stimme zu erheben. Unter ihnen wird es auch solche geben (und die gibt es immer), die gedankenlos Parolen nachplappern. Gegebenenfalls nehmen auch Frauen aus reinem Schuldbewusstsein teil. Man will ja sein Geschlecht irgendwie vertreten und Solidarität zeigen. Doch wo bleibt da das Recht auf Selbstbestimmung und freie Meinungsäusserung, wenn aktionsbewusste Frauen andere Frauen auf irgendwelchen öffentlichen Socialmedia-Kanälen denunzieren, beleidigen und anprangern unsolidarisch zu sein, wenn sie sich nicht «hinter die Sache» stellen würden? Kann man da nicht einfach seine Klappe halten und seine Sache denken? Will ich Teil einer solch radikal angehauchten Gruppe sein, die sich ungerecht behandelt fühlt aber Andersdenkende ebenso ungerecht behandelt? Nein, will ich nicht. Demonstration ja, aber für die Sache, nicht gegen Andersdenkende egal welchen Geschlechts. Auch sie haben das Recht auf Meinungsfreiheit. Es lohnt, für Dinge einzustehen, die einem wichtig sind, an die man glaubt. Wenn man es jedoch tut, tut man es mit Anstand und Professionalität.

Im Sinne unserer Ahninnen, die so viel für uns getan haben: Lassen wir das Thema Gleichstellung in unseren Alltag einfliessen ohne gleich Anklage gegen Unbekannt zu erheben, lassen wir jeden Tag ein bisschen mehr Selbstbewusstsein in unserem Tun zu und stellen uns nicht permanent unter den Scheffel, lassen wir, wie die Geschichte zeigt, unsere Kinder wissen, dass es manchmal kleine Schritte und mehrere Jahre braucht, um Meilensteine zu erreichen, lassen wir sie wissen, dass Durchhaltewille sich lohnt und man dafür nicht über Leichen gehen oder respektlos sein muss, lassen wir die Mädchen wissen, dass es nicht existentiell ist, sich immer und überall anzupassen, allen zu gefallen und sich selbst dabei zu verlieren und nichtig zu fühlen.

«Gap» bedeutet Lücke oder Kluft. «Gender-Gap» heisst demnach die Kluft zwischen den Geschlechtern. Was ich mir für die Zukunft als Frau wünsche und hiermit auch an mein eigenes Geschlecht appelliere: Die Diskussion soll nicht als Krieg mit Gewinnern und Verlierern betrachtet werden. Kluften überwindet man mit Brücken. Mir fehlt das WIR im Kontext. Aus einem ICH ein WIR zu machen ist ein hartes Stück Arbeit. Und mit WIR meine ich nicht wir Frauen gegen euch Männer. WIR, die Gesellschaft. Frau und Mann. Ein WIR ist zusammen. Und zusammen ist man weniger allein.